Zu Beginn kommt der jüngere, krebskranke Bruder des Ich-Erzählers Jesko in Mannheim an, der Heimatstadt und zugleich dem Ort des väterlichen Anwesens samt Zementfabrik; am Ende dann findet eine Verlobung statt, stirbt die Mutter, schwächelt der Vater und stehen die Heilungschancen auf rund 70 Prozent. Und dazwischen? Tobt der Wahnsinn, zeigt die längst nicht mehr so diskrete, überhaupt nicht mehr charmante Bourgeoisie ihre grinsende Fratze, in die das kleinbürgerliche Erbe dieser Familie - Pack schlägt sich, Pack verträgt sich! - seine Stigmata hineingeritzt hat.
Doch halt! - Von Gesellschaftskritik, die der Rezensent nur zu gern dem Erstling von Chris Kraus gutschreiben möchte, ist der Roman weit entfernt. Als Hintergrundrauschen oder dunkler Untergrund, vor dem sich die bizarre Handlung abspielt, ließen sich möglicherweise Splitter beziehungsweise Scherben einer - da war doch noch was? - (selbst-) kritischen Sicht bürgerlicher Verhältnisse und Lebensweise ausmachen. Stattdessen geht es aber schnell, schräg und schrill zu in Kraus´ Text. Diese Erzählung, die - um kein banales Klischee verlegen (Jaguar und Porsche mit zugehörigem Chauffeur samt einschlägigem Outfit und modischen Accessoires!) - verspinnt einen aberwitzigen Handlungsfaden: wie gesagt - der krebskranke Bruder, verkrachter Journalist für Modeblätter, besucht das väterliche Anwesen und sieht nach gut 20 Jahren seine (verrückte und die längste Zeit weggesperrte) Mutter wieder, an deren Knochenmark heranzukommen sein wird, soll eine Behandlung erfolgreich sein. Auf dem - wie sich schließlich herausstellt: nutzlosen - Weg dahin begegnen dem Leser Rückblenden in die Familiengeschichte des Vaters sowie in die eigene des Ich-Erzählers Jesko, der sich an die gemeinsame Internatszeit mit dem älteren Bruder Ansgar, dem Nachfolger des Vaters, und dessen Gewaltausbrüchen erinnert. Es folgen Episoden aus dem verkorksten Leben der Mutter und aus denen anderer, eher randständiger weiblicher Figuren. Es kommt, was in solchen Fällen zweifelsfrei und unerbittlich kommen muss: - als Deus ex machina und Ergebnis eines "Links-Ficks", wie es heißt - der Auftritt des unehelichen dritten Sohns Dirk. Ende gut, alles schlecht: jetzt ist nämlich endlich das richtige Rückenmark gefunden!
Man mag - mit Maßen - durchaus Spaß an dieser abgedrehten Story - und nur an dieser - empfinden; andererseits passen einzelne Kapitel, darunter ein beeindruckendes, leider ganz und gar für sich stehendes Kapitel, das eine Episode vom Kriegsende mit dem gerade einmal siebenjährigen Vater erzählt, weder in den Erzählduktus noch ins Geschehen hinein. Das philosophische Hors d´uvre, diverse Hinweise auf das "blaue Buch von Seneca" und Zitate, wirken genauso fehl am Platz, wie diverse Stilblüten: "im hellen Furor der Deckenlampe", ein "pumpender Vollmond" oder gar: "Auf Ansgars Computer peste ich durchs Internet". Die reichen oft hart bis an die sprachliche Schmerzgrenze: "Und das Leben glich den Kondensstreifen am Himmel, die in alle Richtungen verblassten." Man vermochte sich schon vor der inzwischen erfolgten Verfilmung leicht die letzte Einstellung beziehungsweise den Abspann zum letzten Satz des Romans vorstellen. Leider!
Chris Kraus: Scherbentanz. Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2002, 196 S., 18 EUR
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