FREITAG: Immer häufiger höre ich von Freunden, Nachbarn und Familienangehörigen, "es macht keinen Spaß mehr, zur Arbeit zu gehen". Man könne Worte wie Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, Synergien, Leistungsverdichtung und andere Beraterfloskeln nicht mehr hören. Sammeln Sie ähnliche Erfahrungen?
JÜRGEN PETERS: Sie benennen ein durchaus verallgemeinerbares Symptom. Viele Menschen erleben die Gesellschaft in ihrer zunehmenden Ungerechtigkeit. Zum einen, weil von ihnen immer mehr verlangt wird, sie teilweise Lohnverluste hinnehmen müssen und die Aufstiegsmöglichkeiten begrenzt sind. Zum anderen, weil sie einen sich stetig häufenden Reichtum sehen - nicht nur allgemein, sondern direkt im Betrieb. Sie sehen, dass die Managergehälter in schier unerhörte Höhe wachsen. Gleichzeitig werden die Sicherheiten, die man sich erarbeitet glaubte, immer brüchiger - in vielen Familien ist Arbeitslosigkeit zur Realität geworden.
Wird damit die Schwelle zur "inneren Kündigung" immer niedriger?
Arbeitszufriedenheit und Betriebsklima haben wir gerade in einer Studie untersuchen lassen. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass eine sehr große Zahl von Beschäftigten die innere Kündigung bereits vollzogen hat. Andere stehen kurz davor. Die Bereitschaft, nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, ist ziemlich groß. Der Kreis derer, bei denen eine hohe Leistungsbereitschaft vorherrscht, wird kleiner. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein fataler Zustand.
Die Unternehmen müssten ein vitales Interesse haben, hier sofort umzusteuern. Im Zusammenspiel der Menschen liegt doch der Erfolg für eine Firma. Stattdessen ist ein Trend zu beobachten, der für das amerikanische System typisch ist: möglichst keine Bindungen zu den Belegschaften aufbauen. Es gibt US-Unternehmen, die dieses System perfektioniert haben. Ein Manager darf nur noch eine bestimmte Zeit vor Ort sein, dann wird er ausgetauscht, damit keine sozialen Bindungen entstehen.
Verliert der Standort Deutschland das Gütesiegel "motivierte Stammbelegschaft"?
Das befürchte ich. Einige Wirtschaftsstrategen meinen, das bringe Vorteile. Doch sie sind auf dem Holzweg. Ihre Logik leitet sich aus dem Shareholder-Kapitalismus ab, der alles andere überlagern soll. Was dessen Apologeten Sozialromantik nennen, hätte dann keinen Platz mehr. Werte wie Betriebsbindung, Betriebsklima, Kompromissbereitschaft der betrieblichen Akteure werden auf dem Altar der Shareholders geopfert. Von Interesse ist nur noch der Verwertungsfaktor.
Wenn die Ökonomisierung der Gesellschaft so weit fortgeschritten ist, kann dann eine Umkehr überhaupt noch möglich sein?
Es ist sehr schwer, diesem Mainstream etwas entgegenzusetzen. Immer mehr Menschen glauben an das, was sie täglich um die Ohren gehauen bekommen, immer mehr Politiker hängen an diesem System des allein Seligmachenden. Doch ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Arbeit in kapitalistischer Produktion auch noch etwas Anderes sein kann, als nur für einen anonymen Shareholder Geld zu verdienen. Wir brauchen daher wieder ein Unternehmerbild, das sich vom Raubtierkapitalismus abhebt. Wir sind mitten in dieser Auseinandersetzung - ich weiß nicht, wie sie ausgeht.
Eine starke Strömung drängt die Gesellschaft zur Akzeptanz des amerikanischen Shareholder-Kapitalismus, und es gibt andere, die wollen das Soziale in der kapitalistischen Marktwirtschaft erhalten. Im Prinzip ist der grundsätzliche Systemwechsel bereits vollzogen - damit wollen wir uns nicht abfinden.
Heiner Flasbeck sagt, als Keynesianer gelte er in Deutschland inzwischen als linksradikal. Wie kommt das zustande?
Wenn man zu Grunde legt, wie sich im Parteienspektrum ein Ruck nach Rechts vollzogen hat, dann liefert Flasbeck eine zutreffende Beschreibung. Vor Jahren habe ich Politiker als konservative Sozialdemokraten wahrgenommen, die heute als linke Sozialdemokraten gelten, obwohl sie ihre Auffassungen überhaupt nicht geändert haben. Da ist etwas weggedriftet, das wir zurückholen müssen.
Auf dem Sozialstaatskongress der IG Metall haben Sie gerade für eine "Reformkoalition der Vernunft und der Gerechtigkeit" plädiert, gaben aber auch zu verstehen, die Chancen für eine andere Weichenstellung seien derzeit nicht groß. Wie wollen die Gewerkschaften die Menschen wieder mehr erreichen?
Wir haben es natürlich mit einem starken Gegenwind zu tun. Es wurde schon immer fabuliert, die Gewerkschaften hätten zu viel Macht. Unablässig wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch namhafte Repräsentanten von CDU, CSU oder FDP die Bedrohung der Republik durch den "Gewerkschaftsstaat" an die Wand gemalt. Um anschließend zu fordern, dass unsere Rechte gekappt, die Tarifautonomie gekippt und unser Einfluss generell eingeschränkt werden müsste. Es wurde so getan, als wären wir allmächtig. Folgerichtig wurde unsere Demontage gefordert. Es entstanden publizistische Netzwerke wie die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft", die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall mit vielen Millionen Euro ausgestattet wurde, um den neoliberalen Zeitgeist zu verstärken und in der Bevölkerung so etwas wie eine Mentalität des Verzichts zu verankern. Unter diesen ungleichen Bedingungen ist es natürlich schwer, in der Öffentlichkeit mit der gewohnten Präsenz vorzukommen und in die Debatten einzugreifen.
"Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" - so haben wir unser Arbeitnehmerbegehren überschrieben. Eine Initiative, mit der wir Alternativen für die Zukunft des Sozialstaates in der Gesellschaft besser verankern wollen. Wir haben ja derzeit eine Situation, dass neoliberale Grundstimmungen durch eine sozialdemokratische Regierung mit beflügelt werden. Das hat eine vollkommen neue Qualität! Unter Schwarz-Gelb war es doch so: wenn die Gewerkschaften eine Position eingenommen haben, wurden sie in der Grundrichtung durch die oppositionelle SPD bestärkt. Heute lässt sich auch ein großer Teil der Sozialdemokratie vom neoliberalen Gedankengut treiben. Vieles, was die Unternehmer schon immer wollten, bekommen sie von Rot-Grün. Denken Sie nur an die Senkung der Unternehmenssteuer. Wir befinden uns mitten in einer geistig-moralischen Auseinandersetzung. Auf einem unserer Gewerkschaftstage meinte der Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach, Deutschland zeichne sich durch ein Heer von ökonomischen Analphabeten aus und schlug der IG Metall eine ökonomische Alphabetisierungskampagne vor. Das haben wir uns vorgenommen.
Wie geschieht das?
Wenn in einem solchen System, in dem sich das neoliberale Gedankengut immer weiter ausbreitet, große Massenorganisationen wie die Gewerkschaften als einzige dagegen halten, dann bleibt es nicht aus, dass versucht wird, diese Gegenposition lahm zu legen. Und wenn es dann gelingt, den Streit in die eigenen Reihen zu tragen - wie 2003 geschehen -, treibt man uns in die Ecke. Deshalb müssen wir den Kampf um die Köpfe führen.
Aber die Angst vor Arbeitsplatzverlust macht die Belegschaften zusehends erpressbar. Das lässt sich kaum ignorieren.
Mit unserem letzten Tarifabschluss haben wir deshalb ein neues Buch in der Tarif- und Betriebspolitik aufgeschlagen. Sanierungstarifverträge waren schon immer möglich. Jetzt haben wir zugelassen, dass in mehr als nur Sanierungsfällen abweichende Regelungen möglich sind. Diejenigen, die sich dafür aussprechen, stellen selbstverständlich die positiven Wirkungen in den Vordergrund, die sich in der Formel niederschlagen: Wenn es gelingt, eine Firma am Ort zu halten, sind wir auch bereit, dafür etwas zu geben. Andere haben immer gemahnt, wird dieses Fass geöffnet, ist es ein Fass ohne Boden. Mit dieser Tarifpolitik haben wir die Tür für abweichende Regelungen ein Stück weit geöffnet und erleben jetzt allerdings, dass einige Unternehmen den Spalt zum Scheunentor vergrößern wollen.
Unsere Betriebspolitik wird unter solchen Bedingungen eine andere sein. Plötzlich erkennen Belegschaften den Wert des Tarifvertrages. Entweder sie sind der Meinung, dass das Anliegen des Unternehmens unumgänglich ist - dann wird man einen Kompromiss schließen müssen. Oder sie sind der Meinung, wir werden das nicht tun. Die Belegschaften regeln ihre ureigenen Angelegenheiten - und das halte ich für ein ausbaufähiges System. Insgesamt trägt der Tarifvertrag zur Stärkung der Belegschaftsvertretung bei. Bald sehen wir, ob wir stärker den einen oder stärker den anderen Pfad betreten werden.
Das Gespräch führte Günter Frech
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