Der Winter einer Bewegung

Occupy Die Räumung der letzten Camps in den USA und Großbritannien bedeutet nicht das Ende von Occupy. Die Bewegung hat sich winterfest gemacht und strategisch neu aufgestellt

Ist es schon vorbei? Hat der neue Protestfrühling den Winter nicht überlebt? Wird Occupy in die Geschichte sozialer Bewegungen als diejenige ein­gehen, die schlagartig auftauchte, sich überall großer Sympathien erfreute und schließlich ebenso schnell von der Bildfläche verschwand, wie sie gekommen war? Der Winter hat den zähen Aktivisten zwar zugesetzt, aber der größte Rückschlag für die Camps wurde mit dem ältesten Mittel gegen soziale Bewegungen ausgeführt: staatlicher Repression. In den vergangenen Wochen wurden die letzten Camps in den USA und Groß­britannien geräumt. Besonders in den USA wird mittlerweile mit großer Härte gegen Occupy vorgegangen, zuletzt wurden Ende Januar 400 Menschen in Oak­land festgenommen. Lediglich in Frankfurt harren noch einige Aktivisten in ihrer Zeltstadt vor der Europäischen Zentralbank aus.

Die Vertreibung von den öffentlichen Plätzen hat jedoch das kreative Laboratorium Occupy nicht zerstört. Die Be­wegung hat sich in den vergangenen Monaten winterfest gemacht und strategisch neu aufgestellt. Die symbolischen Besetzungen hatten der Öffentlichkeit politisches Adrenalin injiziert, aber dem Wohlwollen der politischen Eliten folgten keine Konsequenzen, sondern nur Versuche der Vereinnahmung. Gleichwohl hat Occupy dazu beigetragen, eine der größten kulturellen Veränderungen der Vereinigten Staaten auszulösen: Die Bürger sehen zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte die Kluft zwischen Arm und Reich als größeres gesellschaftliche Problem an als Immigration und ethnische Integration.

Gespür für die Stimmung der 99%

Occupy hat im Winter die Sphäre des symbolischen Protestes verlassen, die Bewegung auf eine neue Stufe gehoben und zum ersten Mal die Frage der ökonomischen Macht berührt. Aktivisten versuchten, wichtige Häfen zu blockieren oder leerstehende Bürogebäude zu besetzen. Hier sah man keine Bewegung, die sich ein letztes Mal aufbäumt. Selbstbewusst rief man in Oakland zu einem lokalen Generalstreik auf. Es waren am Ende nur Tausende, die teilnahmen, aber unter ihnen waren viele Gewerkschafts- und Community-Aktivisten.

Nun geht es um die materielle Wiederaneignung der Massenenteignungen durch den Finanzkapitalismus. Bereits im Dezember begannen Aktivisten in mehr als 20 US-Städten, gepfändete und langsam verrottende Häuser zu besetzten, deren Besitzer von den Banken erst enteignet und dann hinausgeworfen worden waren. Gemeinsam mit Familien, die ihre Bleibe in der Krise verloren hatten, machten sie die Häuser wieder bewohnbar und erfreuten sich dabei großer Unterstützung aus der Nachbarschaft, denen leerstehende Häuser und die Schicksale obdachlos gewordener Menschen mehr zusetzten als eine illegale Besetzung. Occupy bewies mal wieder ein untrügliches Gespür für die Stimmung der 99%. Auch in Spanien, wo die Immobilienkrise wie in den USA eine soziale Krise ausgelöst hat, haben sich die Indignados in die Stadtviertel orientiert und sind vor Ort für Wohnraum aktiv.

Der nächste Frühling kommt bald, da kann sich die Bewegung nicht nur auf das Wetter verlassen. Denn Occupy und die Indignados sind das Produkt eines langfristigen gesellschaftlichen Prozesses ökonomischer Enteignung und der Krise politischer Repräsentation. Und so lange diese Verhältnisse weiter so bestehen, wird auch der Protest nicht versiegen.

Oliver Nachtwey ist Soziologe an der Universität Trier

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