Der Zeitungsleser

Kolumne Die Fußballweltmeisterschaft hat die Medien erobert, oder richtiger gesagt, sie sind zu seinen Erfüllungsgehilfen geworden. Nur wer überhaupt keine ...

Die Fußballweltmeisterschaft hat die Medien erobert, oder richtiger gesagt, sie sind zu seinen Erfüllungsgehilfen geworden. Nur wer überhaupt keine Zeitung liest, nie vor dem Fernsehapparat sitzt, dem kann entgangen sein, was im Zentrum des Weltinteresses steht, und dass es da einen Torwart namens Oliver Kahn gibt, der in seiner Medien-Präsenz Schröder und Stoiber, und das heißt die Bundestagswahlen im Herbst spielend (ja, fußballspielend) überrundet hat.
Die TV-Sendungen während dieser Ausscheidungskämpfe um die Weltmeisterschaft haben meinen Wortschatz vergrößert. Vorher hätte ich nicht gewusst, was "Halbfinale" bedeutet. In wenigen Monaten werde ich es wieder vergessen haben.
Nicht lange war eine italienische Mannschaft an den Ausscheidungskämpfen beteiligt, wenn aber doch, so waren die Straßen der italienischen Städte, in meinem Fall die Gassen Venedigs, wie ausgestorben. Italien saß vor den Fernsehern. Im Parlament gab es eine Fragestunde: "Wer schützt den italienischen Fußball?"
Vom inzwischen berühmt gewordenen Torwart Oliver Khan war zu hören: "Wir können und wollen Weltmeister werden." Jetzt benütze ich den Begriff "Weltmeister" schon, als hätte er seit eh und je zu meinem Wortschatz gehört. Nichts weniger war der Fall.

Alles kostet nichts - ja, so ist es! In Berlin-Mitte gibt es in der Brunnenstraße einen kleinen Laden, den man zunächst für einen Secondhand-Shop halten könnte. Das aber ist er nicht. Was hier mitgenommen werden darf, hat keine Preisauszeichnungen. Es braucht nicht bezahlt zu werden. Was dorthin gebracht wird, ist kein Schrott, muss noch verwendungsfähig sein (zum Beispiel eine Ski-Ausrüstung).
Die Umsonst-Läden haben Kunden, die entweder ein Objekt sinnvoll loswerden wollen oder es ohne Bezahlung erwerben möchten. Ist es ein Möbelstück, für das in dem kleinen Laden kein Platz wäre, wird es stattdessen beschrieben und der Zettel an eine Pinnwand im Umsonst-Laden angeheftet.
Dürfte ein Kunde den ganzen Laden ausräumen? Nein! Mehr als drei der preisgegebenen Objekte darf niemand mitnehmen. Wer den Umsonst-Laden aufsucht, hat darüber nachgedacht, was er warum weggeben will und/oder: was brauche ich wirklich?
In der Jungle World vom 19. Juni, wo ich den Hinweis auf Umsonst-Läden gefunden habe, ist zu lesen: "Eines der Anliegen der Betreiber von Umsonst-Läden ist, ihre Kunden zu einem kritischen Nachdenken über ihr Konsum-Verhalten zu veranlassen." Die Umsonst-Läden wollen zur Kapitalismuskritik verführen. Dort wird nicht über das Wetter geredet.
Die solche Läden aufsuchen, gehören den verschiedensten Bevölkerungsschichten an, aber alle haben ein Haar in der Suppe gedankenlosen Konsumismus gefunden. Diese Läden sind ein ideologischer Freiraum in der Konsumwelt.

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