FREITAG: Die Geschichte der "Theaterformen" ist ein ständiges Auf und Ab. Ab diesem Jahr sollen sie nun abwechselnd in Hannover und Braunschweig stattfinden. Wie groß sind die Beharrungskräfte der Tradition und das Bedürfnis nach Erneuerung?
STEFAN SCHMIDTKE: Letztlich ist das keine Sache, die man als Bedürfnis formuliert. Wenn man da ankommt und alles von Null an wiederbelebt und -beseelt, dann muss man der Sache seinen Stempel aufdrücken. Die Theaterformen haben eine sehr wechselvolle Geschichte; sie wurden jährlich veranstaltet, dann wieder fielen sie zwei Jahre aus; mal gab es kaum Geld, dann während der Expo eine Megafinanzierung. 2004 wurden die Theaterformen radikal abgeschafft. Und nun nach drei Jahren habe ich mit leeren Büros und Pappkartons angefangen. Jeder künstlerische Leiter hat zudem eigene Interessen und Lieblingsgebiete im theatralen Bereich; da entwickelt sich ein eigener Stil von ganz alleine. Insofern gibt es nur eine imaginäre Kontinuität.
Wie lässt sich das Programm beschreiben?
Ich mache ein sehr konservatives Programm, auch wenn es nicht so aussieht. Es geht um Werte; um die Fragen, wer bin ich, woher komme ich und wie beschreibe ich das, was ich mit meinem Leben tue. Ob das die intelligenzgeminderten Menschen in der australischen Produktion Small metal objects sind; oder die Leute in Simon Stephens Stück Pornographie vom Staatstheater Hannover, die unterwegs sind zu sich selbst in einer Reise durch die Stadt. Oder ob es die Jugendlichen in AfroReggae sind, die aus einer Favela kommen und gelernt haben, sich selber auszudrücken und das Ganze in Kunst zu verwandeln. Das könnte man mit jeder anderen Inszenierung so beschreiben.
Eine Staatstheaterinszenierung, ein Musical, dazu ein Zirkus, das klingt nach einem programmatischen Sammelsurium. Was ist die konzeptionelle Idee dahinter?
Die Idee dahinter heißt "Formenvielfalt des Theaters". In den Zirkus oder andere Bereiche Ausflüge zu unternehmen, hat den Sinn, das hier vorhandene Programm des Schauspiels Hannover in eine bestimmte Richtung zu ergänzen. Andererseits, findet sich ein Programm natürlich erst im Laufe eines Jahres. Wenn ich reise und Vorstellungen sehe, sortieren sie sich immer wieder anders zu einer Geschichte oder einer kontrapunktisch angelegten Programmatik. Das kann man weder voraussehen oder planen; das bekommt eine Melodie und einen Inhalt erst dadurch, dass es sich mit den Themen der Welt verbindet oder eben daneben steht.
Sie haben bei den Wiener Festwochen dem Theater Osteuropas großen Stellenwert eingeräumt. Wird das bei den Theaterformen auch eine Rolle spielen?
Osteuropa war ein großes Thema um die Jahrtausendwende. Der Osten hatte sich geöffnet und alles, was man hier noch nicht kannte, ob im Baltikum oder in Polen war von besonderem Interesse. Inzwischen ist viel passiert. Leute wie Alvis Hermanis, Árpád Schilling oder Jewgenij Grischkowez sind mittlerweile bekannt und deshalb macht ein Osteuropa-Schwerpunkt heute keinen Sinn mehr - auch wenn wir jetzt mit Nach Poe von Jewgneij Grischkowez, mit Weißer, weißer, schwarzer Storch des usbekischen Theater Ilkhom und Iwan Wyrypajews Juli drei osteuropäische Produktionen eingeladen haben.
Im Vorwort zum Festivalprogramm sprechen Sie von der Utopieproduktion des Theaters. Worin liegt dieses utopische Moment bei den ausgewählten Produktionen?
Der Dreh- und Angelpunkt dafür ist die Internationale Theaterwerkstatt. Das sind junge Projekte, die sich mit der Welt auseinander zusetzen. Da ist zum Beispiel Mark Weils Arbeit Weißer, weißer, schwarzer Storch, ein Stück, das die große Utopie einer Gesellschaft entwickelt, in der Selbstbestimmung und nicht Fremdbestimmung herrscht und dabei Bezug nimmt auf die islamische Kultur und Gesellschaft und ihre Traditionen. Das gilt auch für Young Jean Lee und ihre Songs of the Dragons flying to heaven, die sich mit der Utopie befasst, wie Rassen oder unterschiedlich Ethnien zusammenleben können. Daraus wird eine Geschichte über den Schmelztiegel USA, der so schmelztiegelich gar nicht zu sein scheint.
Was ist die Aufgabe der Internationalen Theaterwerkstatt?
Die Theaterwerkstatt besteht aus drei Teilen: zum einen fördern wir junge Projekte, die einen geschützten Rahmen brauchen; das gilt beispielsweise für Young Jean Lee aus New York, die überhaupt erst ihre zweite Arbeit vorstellt. Zweitens machen wir Projekte möglich an Orten, wo diese Mittel nicht vorhanden sind, ich aber weiß, dass es interessante Themen und Künstler gibt; und drittens sind da die Workshops mit den eingeladenen Künstlern, die mit anderen jungen Menschen in der Region arbeiten.
Wie wird diese Zusammenarbeit genau aussehen?
AfroReggae zum Beispiel ist eine über zehn Jahre alte Künstlerbewegung, die der Sozialarbeiter José Junior in einer Favela in Rio de Janeiro gegründet hat und die junge Menschen animiert, ihren täglichen Lebenskampf mit künstlerischen Mitteln zu beschreiben. Ich habe AfroReggae eingeladen, vierzehn Tage vor ihrem Gastspiel nach Hannover zu kommen und mit Jugendlichen aus hiesigen Jugendzentren, die in einer ähnlich schwierigen Situation sind, zu arbeiten. Diese 25 jungen Leute haben wir dazu gebracht, eine Band zu gründen, die von AfroReggae trainiert und dann auf der Bühne des Schauspielhauses in die Show integriert wird.
Wie erreicht man, dass das nach Ende des Festivals nicht einfach verpufft?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Wir haben aber als Partner das Niedersächsische Polizeimusikkorps und das Jugendamt gefunden, die als Träger ja vor Ort bleiben und die Initiative weitertragen wollen. Ein anderes Beispiel ist Bruce Gladwin und das Back to Back Theatre, das seit fünfzehn Jahren mit intelligenzgeminderten Menschen arbeitet. Sie werden zum einen ein Seminar für Pädagogen, Sozialarbeiter und Psychiater abhalten; zum andern veranstalten sie mit einer Gruppe intelligenzgeminderter Menschen einen Impovisations-Workshop. Intelligenzgeminderte Menschen sind übrigens keine geistig Behinderten, wie viele vermuten, sondern Menschen, die nur einer geringfügigen Beeinträchtigung ihrer geistigen Leistung unterliegen, aber für verschiedene Dinge verblüffend andere Lösungen finden als wir.
Anders als ihre Vorgängerin Veronica Kaup-Hasler machen Sie einen großen Bogen um den Avantgarde-Mainstream von Marthaler bis Hermanis. Liegt darin nicht auch eine Gefahr?
Ich bin erst einmal mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren und habe hier einige Monate vor Ort recherchiert, bevor ich in die Welt gereist bin. Dabei habe ich herausgefunden, dass Niedersachsen die größte Laienzirkusbewegung Deutschlands hat und es allein hier in Hannover acht Zelte mit jungen Gruppen gibt. Also gehe ich doch erstmal auf die Menschen in dieser Region zu und mache denen im besten Sinne des Wortes ein Gastgeschenk, indem ich den französischen Zirkus Le Cirque désaccordé einlade. Hannover besitzt außerdem mit dem Klatschmohn-Festival eins der wichtigsten Festivals, das künstlerische Arbeiten von intelligenzgeminderten Menschen vorstellt. Deshalb habe ich das Back to Back Theatre nach Hannover eingeladen. Festival, Programm und Reisen fließen ineinander, da muss man zugleich neugierig sein und den Ort, an dem alles mal landen soll, immer im Herzen haben.
Mit welchem Etat bewerkstelligen Sie das?
Mit der Förderung durch das Land, die jeweilige Stadt und Lottostiftung bzw. die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz lande ich bei einer Grundsubvention von 850.00 Euro; das sind pro Festival-Ausgabe 400.000 Euro weniger als meine Vorgängerin zur Verfügung hatte. Darüber hinaus habe ich durch Eigeneinwerbung und durch Anträge noch mal 400.000 hinzugewinnen können. Mein Gesamtetat liegt also bei 1,3 Mio. Euro.
Ab diesem Jahr werden die Theaterformen abwechselnd in Hannover und Braunschweig stattfinden. Wird sich das Programm in den Städten unterscheiden?
Generell, ja. Hannover ist eine internationale Messestadt, hier gibt es ganz andere Bezüge zur Welt. Braunschweig hat bis vor 17 Jahren im Zonenrandgebiet gelegen und ist erst jetzt wieder in die Mitte Deutschlands gewandert. Die Stadt hat ein ganz anderes Selbstverständnis. Deshalb werde ich auch dort erst einmal die Resonanzräume vor Ort suchen, in die man gehen kann, und nicht mit irgendwelchen gefinkelten Diskursgeschichten da einreiten, wo die Leute fragen, was das mit ihnen zu tun hat.
Das Gespräch führte Hans-Christoph Zimmermann
Die "Theaterformen" spielen noch bis 24.6. Programm und Informationen unter www.theaterformen.de.
Stefan Schmidtke
wurde 1968 in Döbeln bei Dresden geboren und hat zunächst in Halle und an der Berliner Volksbühne als Regieassistent gearbeitet. Nach dem Regiestudium an der Russischen Theaterakademie in Moskau von 1992-96 wechselte er an die Baracke des Deutschen Theater Berlin. 2000 übernahm er unter Marie Zimmermann die Leitung der Sommerakademie der Theaterformen bei der Expo. Danach betreute er mehrere Jahre das Forum Festwochen (ff), eine Reihe für ungewöhnliche Theaterentwürfe im Rahmen der Wiener Festwochen. Seit 2007 ist er Künstlerischer Leiter des Festivals Theaterformen.
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