Krankenhaus in Tigray: Insel der Hoffnung

Äthiopien Die Ärzte am Ayder-Hospital in der Provinz Tigray trotzen dem Bürgerkrieg – und leiden unter der Blockade humanitärer Hilfe. Wie lange können die Menschen dort noch durchhalten?
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 31/2022

Die Patientenliste in der Trauma-Chirurgie am Ayder-Hospital in Mekelle ist lang. Sie umfasst etwa 1.500 Namen. Doch um so viele Kranke angemessen behandeln zu können, fehlt es an Narkose- und geeigneten Schmerzmitteln, an Nahtmaterial und Operationshandschuhen. Es müssen Ausfälle im Kommunikations- und Stromnetz verkraftet werden, dazu der akute Mangel an Treibstoff. Alles ist dazu angetan, eine ausreichende Betreuung zu verhindern. „Auch der Hunger und ein ständiger Mangel an Schlaf – sie sind ein großes Problem“, meint der Ärztliche Direktor des Spitals, Professor Kibrom Gebreselassie, selbst ein Herz-Thorax-Chirurg. Sein Personal kollabiere nicht selten vor Hunger, manchmal geschehe das direkt am Operationstisch. Über den fehlenden Nachschub an Equipment wolle er gar nicht erst reden. Die Unterversorgung treffe eine Einrichtung mit einem Einzugsgebiet für gut neun Millionen Menschen.

Vor dem Bürgerkrieg im Norden Äthiopiens galt das der Mekelle-Universität angegliederte Hospital als eine Art Kronjuwel des äthiopischen Gesundheitssystems. „Die Patientenversorgung, die wir derzeit leisten können, ist offen gesagt alles andere als Standard“, meint Tedros Kahsay, der für das Pflegepersonal in der Klinik zuständig ist. „Nur rund ein Viertel der Patienten erhält die medizinische Versorgung, die tatsächlich benötigt wird. Leider finden wir unter den gegenwärtigen Bedingungen keinen anderen gangbaren Weg.“

Flucht in die Berge

Der bewaffnete Konflikt um die nördliche Provinz Tigray wurzelt tief in der jüngeren Geschichte Äthiopiens und offenbart einen Abgrund an ethnischer Feindseligkeit, politischer Rivalität und Machtsucht. Die Gräben sind auf beiden Seiten tief. Auslöser der jüngsten Eskalation war eine umstrittene Wahl in Tigray Ende 2020, verbunden mit einer Schuldzuweisung durch die äthiopische Zentralregierung. Sie klagte die marxistische Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) an, am 4. November 2020 die in der Provinz eingesetzten Regierungstruppen überfallen zu haben. Anfänglich noch als „Polizeiaktion“ ausgewiesen, mit der eine Rebellion von TPLF-Kadern niedergeschlagen werde, ging die tatsächlich stattfindende militärische Intervention nahtlos in Repressionen und Säuberungsaktionen gegen die Bevölkerung Tigrays über. Einen Monat nach Beginn der Feindseligkeiten fiel Mekelle, die Tigray-Hauptstadt, in die Hände der Regierungstruppen. Die TPLF-Führung floh in die Berge, um sich neu zu formieren, was ihr offensichtlich gelang.

Anstatt Geboten der Humanität nachzukommen und die zivile Ordnung in der Kampfzone wiederherzustellen, um die medizinische Hilfe für Kranke wie Verletzte garantieren, die Vergabe von Hilfsgütern erleichtern und das Eigentum der Zivilbevölkerung schützen zu können, wich der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed keinen Fußbreit ab vom Weg des Krieges. Der Friedensnobelpreisträger von 2019 wurde zum Warlord. Am 18. Juni 2021 berichtete der finnische Diplomat Pekka Haavisto, EU-Abgesandter für Äthiopien, von zweitägigen Verhandlungen der äthiopischen Führung. Dabei sei gelobt worden, die Tigrayer für die nächsten hundert Jahre auszulöschen. Unmittelbar danach habe eine Kampagne der ethnischen Säuberung begonnen. Zugleich setzte im Juli 2021 eine De-Facto-Blockade von Hilfsgütern ein, die das Krisengebiet erreichen sollten. Es kam zu einer menschengewollten humanitären Katastrophe am Horn von Afrika, wie sie in dieser stets von Unruhen erschütterten Region selten zuvor erlebt wurde.

Zu den Konsequenzen zählen Millionen von Binnenflüchtlingen, die durch das Land irren und in die Stadt Mekelle drängen, wo die ohnehin knappen Nahrungsmittel nicht ausreichen, um die Hilfesuchenden zu versorgen. Viele Flüchtlingskinder werden wegen schwerer Mangelernährung ins Krankenhaus gebracht. Oft ist wegen fehlender Medikamente kaum mehr möglich, als ihnen geduldig Wasser in den Mund zu träufeln und sie durch den Schmerz zu wiegen. Zehntausende Tigrayer flohen ab Juli 2021 über die Grenze in den benachbarten Sudan und mussten sehen, wie die Leichen vieler Landsleute den Fluss Tekezé hinabtrieben. Man wusste nur zu gut, dass es immer wieder Zivilisten traf, wenn es zu willkürlichen Exekutionen kam.

Zu allem Überfluss griff auch die mit Addis Abeba verbündete Armee Eritreas ein und überrannte die Camps der rund 100.000 eritreischen Geflüchteten auf tigrayischem Boden. Bewohner wurden getötet oder als politische Gefangene des dortigen Regimes zurück nach Eritrea verschleppt, wo den Betroffenen schwere Menschenrechtsverletzungen und der Tod drohen. Die Welt schweigt dazu, sodass solcherart Deportationen ungehindert fortgesetzt werden. „Die feindlichen Streitkräfte wollen uns dazu bringen, dass wir aufgeben und das Ayder-Hospital schließen“, sagt Tedros Kahsay, der Direktor für den Pflegedienst. „Würden wir dies tun, hieße das: Der Genozid an den Tigrayern kann einfach so weitergehen. Diesem furchtbaren Plan trotze ich jeden Tag – dafür lebe ich. Es gibt mir den Mut und die Kraft weiterzumachen.“

Nur ein geringer Teil der medizinischen Ausrüstung – es handelt sich ausschließlich um Sachspenden des Internationalen Roten Kreuzes und anderer Hilfsorganisationen – dringt bis zum Ayder-Hospital durch. „Wir improvisieren“, erklärt Kahsay. „Wir reparieren, was wir können selbst, waschen die OP-Handschuhe aus und verwenden ein Dialysebesteck zehnmal für denselben Patienten.“ Am schlimmsten sei die psychische Belastung. Nur allzu oft müssten die Ärzte zusehen, wie ihre Patienten sterben, weil das erforderliche medizinische Gerät fehlt, sagt Kibrom Gebreselassie, der ärztliche Direktor. „Die Patienten, die in unser Haus kommen, haben nicht selten einen weiten Weg hinter sich. Sie bewältigten ihn in der Hoffnung, hier behandelt und geheilt zu werden. Und dann stellt sich heraus, wir haben nicht einmal das Nötigste, um ihnen beizustehen.“

Ärzte ohne Gehalt

Die Anzahl der Patienten im Hospital hat sich seit Kriegsbeginn im November 2020 mehr als verdoppelt, erzählt der Herz-Thorax-Chirurg weiter. Unter widrigsten Bedingungen kämpften jeden Tag 136 Mediziner um das Leben der Verletzten und Kranken. Seit über einem Jahr täten sie das, ohne auf ein Gehalt rechnen zu können. Es gäbe kein Geld, das Personal lebe von Nahrungsspenden.

Ein großes Problem seien die sexualisierte Gewalt und deren Folgen. „Noch immer haben wir es seit dem Überfall auf Tigray durch äthiopische Regierungstruppen, ihre eritreischen Verbündeten und amharische Banditen täglich mit den Opfern von Vergewaltigungen und Verstümmelungen zu tun“, so Kibrom Gebreselassie. „Die meisten leiden unter sexuell übertragbaren Krankheiten, ungewollter Schwangerschaft oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Amnesty International, Human Rights Watch und das tigrayische Regionalbüro für Gesundheit dokumentieren seit Beginn des Bürgerkrieges sexuelle Übergriffe gegen Frauen und Gruppenvergewaltigungen, die als Kriegswaffe eingesetzt werden und darauf abzielen, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren.

Einer Studie zufolge, erarbeitet unter Beteiligung des Ayder-Hospitals, sollen nach den wiederholten Vergewaltigungen Amhara-Milizionäre zu den betroffenen Frauen gesagt haben, dass ihre Körper niemals wieder Leben spenden dürfen. Die Opfer wurden gezielt verstümmelt, ihre Genitalien mit heißen Metallstäben versengt, mit Nägeln, Steinen und Granatsplittern verletzt, sodass sie keine Kinder mehr bekommen können. Oft wurden Frauen nach schweren Misshandlungen ins Ayder-Hospital eingeliefert, wo man sich daran erinnert, dass es auch für Krankenschwestern beim Überfall auf Mekelle keinen Schutz vor sexueller Gewalt gab. „Es ist kaum möglich, uns dieser grausamen Bilder im Kopf zu erwehren“, sagt Tedros Kahsay. „Nur weil wir trotzdem durchhalten, können so viele Menschen gerettet werden.“

Es wird erheblicher Anstrengungen bedürfen, diese Wunden in der tigrayischen Gesellschaft zu heilen und die Überlebenden systematischer sexueller Gewalt wieder an ein normales Leben heranzuführen. „Häufig wird das Dasein einer Frau danach bis in die Familien hinein unerträglich. Sie ist Stigmatisierung wie Ausgrenzung ausgesetzt“, sagt ein Psychologe am Ayder-Hospital, der zu seinem Schutz und dem seiner Familie anonym bleiben möchte. „Manche Frauen können außerdem nicht nach Hause zurück, weil ihre Häuser zerstört sind oder sie von ihrer Familie getrennt wurden. Schließlich werden viele Gebiete weiterhin von feindlichen Streitkräften oder Milizen kontrolliert.“ Für vergewaltigte Frauen gibt es in Mekelle ein „Safe House“, in dem sie je nach Bedarf medizinischen und psychologischen Beistand sowie materielle Unterstützung erhalten, um bald in die Gesellschaft zurückfinden zu können.

Gemäß der Resolution WHA 65.20 von 2015 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO mit der Erfassung von Angriffen auf die Gesundheitsinfrastruktur bei Kriegshandlungen begonnen. Angriffe auf Krankenhäuser, Gesundheitszentren, Ambulanzen, Depots für Arzneimittel, Blutkonserven und medizinisches Equipment oder auf humanitäre Transporte werden weltweit erfasst. Das Gleiche gilt für die in Kriegssituationen getöteten Mediziner und Patienten. Äthiopien bleibt bei diesen Dossiers bisher völlig ausgeblendet, obwohl dort quasi jeden Tag aufs Neue geltendes Recht gebrochen wird. Sowohl die Blockade von Hilfslieferungen und die damit in Tigray einhergehende humanitäre Katastrophe als auch die sexuellen Übergriffe gegen Frauen kann man nur als Zeichen gezielter Säuberungsaktionen deuten. Sie richten sich gegen einen Teil der nicht Amharisch sprechenden Zivilbevölkerung des Landes.

Melanie M. Klimmer ist Kulturanthropologin und Krankenschwester mit Weiterbildung in humanitärer Gesundheitsversorgung

Lewis Wall ist Forscher und Arzt. Er wurde vom Ayder-Hospital zum außerordentlichen Professor für Geburtshilfe und Gynäkologie ernannt. Von ihm kam der Anstoß für das erste Ausbildungsprogramm für Urogynäkologie in Äthiopien

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