Woher nehme ich das Recht, etwas zu den Ereignissen in Chemnitz zu schreiben? Kenne ich die Fakten? Ich war ja nicht dabei. Und selbst wenn ich dabei gewesen wäre: Wüsste ich denn, ob die Jagd auf ausländisch aussehende Menschen nicht nur eine Inszenierung war?
Sind wir so weit, dass wir unseren eigenen Augen nicht mehr trauen? Dass wir den Nationalismus, wenn er uns mit seiner hässlichsten Fratze ins Gesicht lacht, für ein Trugbild halten, verlegen hüsteln und uns abwenden – ach was, alles inszeniert?
Die Verunsicherung ist groß und sie spielt den Rechten in die Hände. Wenn sich ohnehin nicht feststellen lässt, was wahr und was falsch ist, kann man auch gleich glauben, was man möchte. Es ist ein Zustand, der schwer auszuhalten ist. Die
zuhalten ist. Die einen macht es anfällig für die schlichten Parolen. Die anderen macht es mundtot.Deshalb sind Strategien zur Verunsicherung im gesamten rechten Lager so wichtig. Neu ist, dass sich ein amtierender Verfassungsschutzpräsident daran beteiligt, einen solchen Zustand möglichst großer Verunsicherung herbeizuführen. Das Schema der Äußerungen von Hans-Georg Maaßen ist bekannt: Die Medien werden diskreditiert, die Menschen von den rechten Übergriffen abgelenkt.Maaßens Angriff auf die Medien war scharf, aber zugleich vage genug, um später zurückzurudern, auch das kannte man bisher vor allem von der AfD. Was übrig bleibt, ist der in rechten Kreisen seit Langem gepflegte Vorwurf einer Lügenpresse. Ohne Fakten schweben wir frei im Raum. Fakten bleiben wichtig. Wir müssen wissen, was genau geschehen ist, um Ereignisse möglichst präzise bewerten zu können. Aber wir dürfen auch nicht in vorauseilendem Gehorsam schweigen, weil Einzelheiten unklar sind.Kurzer Rückblick: Am Anfang standen – in Chemnitz und in Köthen – zwei mutmaßliche Straftaten. Ein 35-jähriger Mann und ein 22-jähriger Mann, beides Deutsche, wurden getötet. Tatverdächtig sind in einem Fall ein Iraker und ein Syrer, im anderen Fall zwei Afghanen. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaften, diese Fälle aufzuklären und vor Gericht zu bringen.Es handelt sich, das muss man so deutlich sagen, um normale Kriminalität. Wenn ein Mensch getötet wird, ist das schrecklich, es ist der Zusammenbruch einer Welt – aber es ist nicht der Zusammenbruch einer Gesellschaft. Jedenfalls nicht, solange ihr Sanktionssystem greift.Wir müssen das Paradigma aufgeben, dass es Gewalttaten von Asylbewerbern, von Ausländern, von Menschen mit Migrationshintergrund nicht geben darf. Es gibt sie. Wir brauchen eine effektive Strafverfolgung. Wir brauchen Maßnahmen zur Gewaltprävention. Es ist eine Kernaufgabe des Staates, zu gewährleisten, dass kriminelle Handlungen auf einem Niveau bleiben, das für die Gesellschaft als solche erträglich ist. Das ist kein Lieblingsthema der Linken, aber wir sollten es nicht allein den Rechten überlassen.Allerdings: Wir sollten auch nicht den Rechten auf den Leim gehen und Probleme größer machen, als sie sind. Wir müssen es noch als Irrwitz erkennen können, wenn der Bundesinnenminister Migration als die „Mutter aller Probleme“ bezeichnet. Weder Ignoranz noch Alarmismus helfen weiter. Das gilt auch, wenn es darum geht, die Demonstrationen und die Ausschreitungen zu bewerten, die auf diese Taten folgten. Auch das ist zunächst ein Fall für Polizei und Justiz, die etwaige Straftaten aufklären müssen, etwa Landfriedensbruch, Volksverhetzung oder Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Der Verfassungsschutz hat mit der Aufklärung von Straftaten hingegen nichts zu tun. Seine Aufgabe ist es, Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten. Die Kölner Behörde müsste also nun analysieren, inwiefern sich hier eine starke rechtsextreme Bewegung formiert. Theoretisch.Denn wie es sich gezeigt hat, ist man dort nicht willens und nicht in der Lage, die Verfassung gegen Angriffe von rechts zu schützen. Stattdessen agiert der Präsident als Handlanger der Rechten. Es wäre ja interessant, zu wissen, wie so schnell so viele Menschen mobilisiert werden konnten, und was genau es mit dem Video von „Antifa Zeckenbiss“ auf sich hat. Wenn Maaßen etwas zur Aufklärung beitragen kann, soll er das tun. Wenn nicht, hat seine Behörde – wieder einmal – versagt und er sollte sich wenigstens zurückhalten.Im Kampf gegen rechts ist man auf den Verfassungsschutz nicht angewiesen. Die Datensammelbehörde ist hier schon immer ein Hindernis gewesen, kein Helfer. Und die örtliche Antifa ist in der Regel besser über rechte Strukturen informiert als die Beamten in Köln.Wachsam sein, gesellschaftliche Entwicklungen erkennen, Fragen aufwerfen, recherchieren, Strategien erproben, erklären, die richtigen Worte finden – alles das können und müssen Linke in einem aufgeheizten gesellschaftlichen Klima leisten. Es heißt jetzt: Hinsehen. Hinhören. Und den Mund nicht halten.Placeholder authorbio-1Placeholder link-1