Detlev Lücke - 1942-2007

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Das Glückskind

Seit der Nachricht am Donnerstagnachmittag rumoren drei Worte in meinem Kopf rum, hartnäckig, unabweisbar. Beziehungslos ineinander verirrt, unpassend: Lücke ist tot. Mein Kollege, Gefährte, Freund. Der große Graue mit dem hellen Blick und dem Lachen in der Stimme. Als sei das Leben zum Amüsieren da, zum Neugier stillen, zum Witze erzählen, zum Leben eben. Lücke ist tot - ein Satz, der sich verbietet, eine Falschmeldung, eine Ente sozusagen. Lücke ist tot- ick wollte bloß mal sehen, wie du reagierst, hätte er vielleicht gesagt und meine Empörung über den makabren Scherz genossen, in Erinnerung vielleicht an unsere elitären Spiele in den langen Jahren beim Sonntag, der schön schlampigen Kultur-Redaktion am Hausvogteiplatz. In dem Haus mit dem schäbigen Mobiliar und den nostalgischen Schreibmaschinen, auf denen wir unsere zart subversiven Texte tippten.

Komm doch zum Sonntag, wenn du gut schreiben kannst, hatte ich ihm mal geraten, als er erzählte, dass er sich beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst langweile. Das war an der Bar vom Espresso Unter den Linden, dem Mittags-Treffpunkt der Intellektuellen von Berlin-Mitte. Er kam, und er konnte schreiben. Intelligent, schnell, unterhaltsam. Über Kunst und Politik, über seine Kindheit als Kriegskind, über Berlin, die Stadt, in der er Bescheid wusste wie kaum einer. Er wusste überhaupt Bescheid wie kaum einer; sein Gedächtnis war phänomenal, seine Bildung desgleichen. Er war garantiert einer dieser Schüler, die immer Einsen und Zweien kriegen, ohne sich anzustrengen.

Alles flog ihm zu: gute Gedanken, die geniale Grafikerin als Gattin, Geld. Er hat sogar im Lotto gewonnen, noch zu DDR-Zeiten. Fünf Richtige, was sonst, er wusste ja alles. Er wäre der perfekte Joker gewesen für Jauchs Wer wird Millionär. Wir pflegten andere Spiele, absurde, zweckfreie. Wir verpulverten unsere überschüssige Kreativität in selbst erdachten Gesellschaftsszenen und lachten Tränen.

Letztes Weihnachten traf sich die alte Bande im Bötzow privat bei Bier und Bouletten. Lücke war von Pankow nach Mitte geradelt und hatte den Tisch reserviert. Es zog ein bisschen von der Tür her, und weil der eine es mit der Schulter hatte und der andere mit dem Rücken, machten wir um die Ecke weiter, im Tucholsky. Lücke erzählte, wie er immer erzählte, pointiert, bilderreich, bestens informiert über die neuesten Ereignisse des Weltstadt- und Privatlebens, sentimental in der Erinnerung an gemeinsame Bekannte: Weeßte noch, der Baptist, wie der schon als Schüler nachts in Bars Musik machte und am Morgen mit solchen Augenringen in der Klasse saß ...

Er war ein Glückskind, ein Gewinner und Genießer, und wenn er es mal nicht war, dann drehte er es sich so hin. Er sah die Dinge des Lebens positiv, immer. Wie aber, mein lieber Lücke, willst du deinen schrecklich überraschenden Tod an jenem kalten, sonnigen Donnerstagmorgen positiv sehen? Ich bin sicher, dir würde was einfallen, was Waches.

Jutta Voigt


Ein Versöhner

Es lag außerhalb jeder Vorstellung, dass er auf einmal den Abschied gibt. Mittendrin im Leben. Zwar schon Rentner, gerade erst geworden, so früh es irgend ging, um frei zu sein für die Dinge, zu denen er von vielen Seiten eingeladen wurde: Ein gern gesehener Autor, Moderator, Berater, Gast und auch Gastgeber, dessen Haus und Familie, dessen Gesellschaft alle Leute beschwingt, inspiriert, gut gelaunt verließen. Warum habe ich nur beim alljährlichen Weihnachtsessen im Dezember nicht an der Tischecke gesessen, wo er war und wo es ständig Gelächter gab? Ich wollte dorthin rücken, aber verpasste es. Das nächste Mal, mag ich gedacht haben. Wir würden uns wieder treffen, Detlev kannte trotz seiner kaum überschaubaren Kontakte Treue, darauf konnte man sich verlassen. Als er 2001 vom Freitag zum Parlament ging und wir das als herben Verlust empfanden, hielt er Verbindung, tauchte gelegentlich in der Redaktion auf, schrieb zuweilen und stieg zuletzt mit der Kolumne Stille Post wieder ein.

Ich zwinge mich zur Vergangenheitsform. Detlev war ganz Gegenwart, Geistesgegenwart, Reaktionsfähigkeit. Wenn er Witze aus der DDR erzählte, vermutete wohl nie jemand Nostalgie, es gehörte einfach zum Schatz an Geschichten, aus dem er schöpfte und der nicht abgestorben in seinem Gedächtnis lag, sondern lebendig herumwirbelte und sich mit immer Neuem verknüpfte, auf das er neugierig war. So war es auch in seinen Texten. Zu diesem Schatz gehörte ein großes Bildungsgut, antike und moderne Literatur, Sprach- und Religionswissenschaft, dazu gehörten auch Begegnungen mit Menschen und manchmal Liebesgeschichten, eigene und beobachtete. Er hatte die Gabe, Leute und Situationen treffend zu kennzeichnen. Er konnte noch die Lehrer im Grauen Kloster in Ostberlin beschreiben, wo er Latein und Griechisch lernte, Stoff waren ihm die Professoren der Altphilologie im Studium an der Humboldt-Universität und seine ersten Erfahrungen als Lehrer. Und zuletzt war es die Redaktion des Sonntag, über die er wie aus einem Füllhorn unendliche Geschichten hervorholte.

Wenn er jemand nachahmte oder charakterisierte, stimmte es genau und war doch nie kränkend. Er war der geborene Versöhner, er wusste es, empfand es als Stärke und manchmal als eine Schwäche und konnte sich über sich selbst lustig machen, mit derselben Klarheit und zugleich Nachsicht, die er anderen Menschen gönnte. Aber er konnte sich doch zuweilen mächtig ärgern und bissig werden: über Sprachschlampereien, aber vor allem, wenn sich westdeutsche DDR-Klischees mit hartnäckigen Falschinformationen mischten. Er verteidigte damit auch sein eigenes Leben, denn er verkörperte einen Typus, der in westlicher Vorstellung nicht vorkommt: skeptisch und kritisch, aber nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber dem Sozialismus-Versuch, kein abgeschotteter Nischenbewohner, kein verklemmter Leisetreter, aber eben auch kein Dissident. Dabei kannte er sie alle und war im Gespräch mit viel unterschiedlicheren Leuten, als im westlichen DDR-Bild Platz haben.

Das alles brachte Detlev Lücke im November 1990 aus dem Sonntag mit zum Freitag. Er passte zu einer Ost-West-Wochenzeitung und gestaltete sie mit - vor allem ihren Kulturteil - in jenem aufregenden Entstehungsprozess, als so vieles offen war. So prägte er das Profil des Freitag.

Eine Reise nach Istanbul war eines der schönen Vorhaben, die für ihn lange anstanden. Endlich war die Reise gebucht, gemeinsam mit Gülcin Wilhelm und einigen Kolleginnen. Für Ende März.

Marina Achenbach


Wetterfester Witz

Er war groß, wuchtig, man kam an ihm nicht leicht vorbei. Er hatte diese Präsenz, die schwer zu erklären ist. Wenn er im Raum war, bestimmte er die Stimmung. Dabei hatte er etwas Sanftes, fast Defensives.

So kam er mir 1990 vor, als wir uns in dem baufälligen Haus des Sonntag in Ostberlin trafen. Danach haben wir sechs Jahre lang in der Kulturredaktion des Freitag in Kreuzberg und Treptow zusammen gearbeitet. In einem Zimmer. Ich war fast noch Student, gerade erst Redakteur, er viel etablierter, routinierter. Er saß an seiner zentnerschweren Robotron-Schreibmaschine und schüttelte, wie nebenbei und meist in ein paar Minuten, elegante Feuilletons aus dem Ärmel. Über Spaziergänge unter den Linden oder die Verkäuferin im Eckladen. Über Fußball, Architektur, Pommes-Buden oder Philosophen. Stets mit einer Mischung aus Bildung und Verspieltheit. Die Pointen kamen in seinen Texte vorbei wie zufällige Passanten.

Er wusste alles über Berlin. Er konnte aus dem Stegreif einen Vortrag über die Geschichte der Humboldt-Universität oder der S-Bahn halten - und danach einen so zotigen Witz reißen, der Hiphoppern die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Wahrscheinlich bin ich ihm damals manchmal mit meiner poststudentischen Debattierlust auf die Nerven gefallen. Andererseits waren wir ein fast symbiotisches Paar: Er kannte alle DDR-Witze, ich keinen, er erzählte sie gut und gerne, ich konnte mir keinen länger als zehn Minuten merken.

Er hatte eine Art unangestrengter Bürgerlichkeit, die ich umso mehr bewunderte, weil ich sie aus dem Westen nicht kannte. Diese Lockerheit hatte wohl mit der DDR zu tun, wo Bürgerlichkeit ein Minderheitenprogramm gewesen war, fern von engem Statusdenken. Er hatte einen wetterfesten Sinn für Ironie. Der fußte auf dem Wissen, wie zufällig Sieg und Niederlage waren. 1961 hätte er auch im Westen bleiben können, aber irgendwie kam es anders. Er wusste, dass die Macht meist dumm ist. Und das Beste, was man machen kann, ein guter Witz ist.

Er fehlt, schon jetzt.

Stefan Reinecke


Mit Haltung

Mit Detlev Lücke ist ein gradliniger und sehr aufrechter Mensch von uns gegangen, ein langjähriger Freund, der mir fehlen wird, dessen Tod ich nicht verstehen kann, nicht verstehen will.

Er war ein Publizist mit Stil und Witz, ein Redakteur mit einem klaren Blick, ein Chefredakteur, der den Turbulenzen in einer Redaktion mit Gelassenheit und Ruhe begegnete, der zu führen verstand, aber sich auch unterordnen konnte.

Er war Altphilologe, unterbrach aber diese angestrebte Laufbahn, als ihm klar wurde: Ein ganzes Leben lang hätte er mehrere Bände eines gewichtigen Lexikons zu bearbeiten und zu betreuen, und zwar die Bände mit den Buchstaben K bis N. Dies schreckte ihn, und er wurde daraufhin Redakteur für Kunst in der Wochenzeitung Sonntag und war später Redakteur und Chefredakteur beim Freitag. Der Altphilologe aber blieb stets erkennbar: genau und präzise zu formulieren, war unabdingbar für ihn, und großen Wert legte er auf das Lapidare, die knappe Formulierung. Und eben diese Beschränkung zeichnete seinen Humor aus: so kurz und bündig wie präzise vermochte er sowohl in seinen Manuskripten wie im Gespräch akkurat den entscheidenden Punkt zu treffen.

Er war Journalist in schwierigen deutschen Staaten, und er hat immer Haltung und Rückgrat bewiesen, was nicht allein in dem ostdeutschen Staat schwierig war und noch immer viel Feind und Ehr einbringt. Vielleicht hatte es ihn zu viel Kraft gekostet, so viel Kraft und Gesundheit, dass er uns nun so überraschend und so unsinnig früh verlassen musste.

Christoph Hein


Ein Skeptiker

Detlev Lücke war eine Instanz, sonntags wie freitags und an allen anderen Tagen. Leicht schreibt sich das hin, zumal es die Wahrheit ist. Er war das schon, als ich mit dem Schreiben zur Kunst anfing. An meinen ersten Besuch in der Sonntag-Redaktion habe ich nur die Erinnerung eines strahlenden Sommermittags vor etwa 30 Jahren. Und dass wir uns sehr gut verstanden im sarkastischen Durchleuchten unserer Redakteursexistenzen.

Später luden wir uns manchmal gegenseitig zu Beiträgen ein. Er, gestützt von der Autorität des angesehenen Wochenblattes, ich aus der Nische der um Anerkennung ringenden Fachzeitschrift. Zumeist waren wir zufrieden miteinander und entschuldigten uns - einer beim anderen - verschämt für die kargen oder gar ausgebliebenen Honoraranweisungen. Aber das war gar nicht so häufig, die längste Zeit werkten wir auf unseren eigenen Baustellen, freuten uns, wenn wir uns sahen, was er viel besser zeigen konnte, und erörterten die Lage. Jeder die seine. Und dann, vorsichtiger, die gemeinsame.

Er konnte etwas Seltenes in dieser Branche: spitz sein, kritisch, auch ironisch - dabei immer maßstabbewusst und aus der Perspektive des Wissenden argumentierend. Und wenn er etwas bewunderte, gab er es zu. Er schrieb, wie er dachte und sprach: nicht geschwind, aber schnell, souverän statt beflissen, unabhängig vom Mehrheitsgemurmel, fair vor allem und in der Gewissheit, die Dinge zu kennen, denen er sich zuwandte. Er erschien mir chevaleresk und hatte doch etwas eingeboren Berlinisches, das man nur noch selten trifft: eine verfeinerte Skepsis, die ihre melancholische Disposition und ihre Distanz hinter einer kalkulierten Outriertheit verbirgt, um lachen zu können, wo das Gegenteil viel näher läge.

Dass die Kunstkritik durch Aushungern der Kritiker abgeschafft und durch den Aktualitätswahn das kontemplative Denken über die Kunst aus den Medien getrieben wurde, beschäftigte ihn. Er fand einen Weg, seine Texte dem entgegenzustellen. Die, die nun nicht mehr entstehen, werden fehlen wie er. Die Geschichten bleiben - und das Bild eines Mannes voller Eigenschaften. Ein Gruß soll ihm nachgehen, wohin auch immer.

Matthias Flügge


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