Noch immer gehören 70 Prozent des Farmlands Namibias der weißen Oberschicht, also hauptsächlich Nachfahren deutscher Kolonialherren. Schwarzwälder Kirschtorte und einen badischen Männergesangsverein findet man im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika auch heute noch leichter als die traditionelle Herero-Kunst des Bogenspielens.
Das deutsche Erbe ist indes vor allem eines des Verbrechens: Im August 1904 riegelten deutsche Soldaten unter dem Kommando Lothar von Trothas die Wüste Omaheke ab, wohin sich ein Großteil der Herero-Bevölkerung nach der Schlacht am Waterberg geflüchtet hatte. 60.000 Menschen verdursteten im heißen Sand. Das Massaker markierte den Höhepunkt des Genozids an den Herero und Nama. 111 Jahre dauerte es, bis Deutschland
eutschland den Völkermord als solchen anerkannte, und bis heute wird über eine Entschädigung der Opfer gestritten.Kann, darf ein koloniales Trauma in einer Oper aufgearbeitet werden? Chief Hijangua – die erste namibische Oper überhaupt – ist ein Freundschaftsprojekt der deutschen Regisseurin Kim Mira Meyer und des namibischen Dirigenten und Komponisten Eslon Hindundu. Davon überzeugt, die Kolonialgeschichte nur in einer Form erzählen zu können, die sich aus hierarchischen Produktionsbedingungen löst und vom eurozentristischen Blick verabschiedet, arbeiteten sie in gleichberechtigten deutsch-namibischen Teams. Die Uraufführung fand im September 2022 in Windhoek statt, in Deutschland nimmt die Oper einen zentralen Platz im 100-Jahr-Jubiläum des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) ein.In der missionarischen Erziehung ersticktIm Foyer des RBB-Sendesaals in Berlin stoßen die BesucherInnen mit den Schuhspitzen an ein eingezäuntes Sandfeld. They try to bury us hat Isabel Katjavivi ihre Installation genannt, womit sie den hunderttausend getöteten Herero und Nama ihr Gesicht zurückgeben möchte – im buchstäblichen Sinn. Die weißen Masken im grauen Sand hat die Künstlerin mit Herero-Wurzeln nach ihrem Antlitz geformt. In der Oper werden sie zu den wichtigsten Requisiten des Chores, die das historische Grab in den Nährboden einer neuen Geschichte verwandeln.Auf der Rundfunkbühne erhebt sich ein graues Pappmachémassiv, hinter dem das Orchester beinahe völlig verschwindet. Eine schmale Schlucht, markiert von Kupferstangen, zieht sich wie eine große Wunde vom höchsten Felsen bis zum Sand auf der Vorbühne – wo Sakhiwe Mkosana als junger Prinz Hijangua vor Matjiua (Janice van Rooy) kniet, die leider seinem Bruder Nguti (Galilei Uajenenisa Njembo) versprochen ist. Aus Kummer flieht Hijangua in die Wüste, wo ihn die deutsche Missionarstochter Maria rettet. Hijangua wird Soldat in einer Missions-Schutztruppe, doch die Gefühle Marias treiben ihn zurück in sein Heimatdorf – dort will er die Herrschaft übernehmen und Matjiua zurückgewinnen. Im Affekt erschießt Hijangua seinen Vater, den alten König – während bereits die deutschen Soldaten anrücken.Nikolaus Freis Libretto endet dort, wo der historische Genozid beginnt. Die Hauptfigur Hijangua ist inspiriert von Samuel Maharero, der als Anführer der Herero dem brutalen Vernichtungsbefehl von Trothas die Stirn bot. Frei verdichtet historische Versatzstücke aus namibischen und deutschen Überlieferungen und mäandert zwischen Fabelmotiven und christlicher Ikonografie. Die Begegnung mit einem Schaf in der Wüste, das Hijangua rät, die Kraft in sich selbst zu suchen, und das dieser gegen einen gierigen Schakal verteidigt, taucht später als Lamm Gottes, als christliches Opfermotiv auf. Die Suche nach sich selbst erstickt so in der missionarischen Erziehung, dem blinden Vertrauen auf einen fremden Gott. Im großen Chorfinale bleibt offen, ob die gemeinsame Geschichte der Namibier und Deutschen im Genozid endet oder in Zukunft neue Erzählungen hervorbringen kann.In Beethoven steckt viel NamibiaEslon Hindundu hat Chief Hijangua in eine überraschend konventionelle Form gebettet. Über weite Strecken klingt es wie eine große Freiheitsoper mit Musical-Pathos, ein Fidelio-West-Side-Story-Amalgam, mit Rezitativen, Arien, Chören, pompös orchestriert. Angefasst ist man, wo der romantische Schmelz aufbricht. Wie zu Beginn der Ouvertüre, wenn sich eine Hornmelodie in pentatonischen Skalen sehnsüchtig emporschraubt, eine Hereroweise, die den Waterberg als heiligen Ort besingt und sich in Streichern und Holzbläsern fortsetzt, bis sie von nervösen Marimba-Clustern und Trommelwirbel unterbrochen wird. Bei den Rhythmen hat sich Hindundu von Beethovens Klaviersonaten inspirieren lassen, diese aber ins doppelte Tempo gesetzt. Er selbst sei erstaunt, wie viel Namibia in Beethoven stecke. Oder auch wenn Janice van Rooy als Matjiua den Abschied Hijanguas betrauert und zwischen ihren Koloraturen ein fast jodelndes Schluchzen improvisiert, das später in den Frauenchören wiederkehrt. An solchen Stellen gelingt tatsächlich die Synthese einer neuen Ausdrucksform jenseits von Exotismus. Doch wünschte man sich dafür eine mutigere Regie, die die Beziehungen der einzelnen Figuren dynamischer übersetzt und sie nicht nur frontal an der Rampe agieren lässt.Die Kraft dieser ersten deutsch-namibischen Oper entfaltet sich vor allem in den eindringlich-schönen Stimmen der namibischen und südafrikanischen SolistInnen – allen voran Janice van Rooy, Sakhiwe Mkosana und Galilei Uajenenisa Njembo, die auf Deutsch und Otjiherero singen, das sich als ideale Gesangssprache entpuppt, die man auch in Zukunft auf großen Opernbühnen hören möchte.