Ihr halbes Leben hat sie in New York verbracht, nun steht sie auf einer Bühne in einem kleinen Theater an der Lower East Side, blond, blauäugig, 41 Jahre alt, und redet von Schuld. The Bad German heißt ihre Show, die schlechte Deutsche. In Tessa Kims Soloprogramm geht es um Identität und the wurst in all of us, die Wurst in uns allen. Premiere hatte das Stück gerade beim New Yorker Fringe-Festival. Abend für Abend spielte Tessa Kim vor ausverkauftem Haus. In 75 Minuten beschreibt die gebürtige Kölnerin die Metamorphose einer jungen Frau – geplagt von massiven Selbstzweifeln und depressiven Verstimmungen, wird sie zur gestandenen New Yorkerin. „I’ve left them all behind, I’m in a New York state of mind“, sang einst Billy
0;, sang einst Billy Joel.Tessa Kim erklärt, was es für sie bedeutete, im Land von „Wurst und Kraftwerk“ aufzuwachsen, und wie viel Anstrengung es sie gekostet hat, im richtigen Moment die Kurve zu kriegen. Ihr Medizinstudium in Deutschland hat sie abgebrochen. „Meine Eltern haben das Trauma der Nazigräuel und die Schuld niemals verwunden. Da aber ein offener Dialog nie stattfand, war Alkoholismus in meinem Elternhaus ein ständiger Begleiter meiner Kindheit und Jugend“, sagt sie. Die New Yorker Besucher klatschen lange.In TherapieKim erzählt von „Tessa dem Teenager“, der während des ersten Schüleraustauschs in der amerikanischen Kleinstadt Natick in Massachusetts ein paar grundlegende Lektionen lernt. Dort begrüßt man Tessa mit „Heil Hitler“, ein Koch in einem Restaurant empfiehlt, man sollte sie nicht zu nah an den Ofen lassen. Das Publikum hält den Atem an. Amerikanische Mitschüler fragen sie: „Was war der größte Penis, den du jemals gesehen hast?“ – „Keine Ahnung“, stottert der Teenager, „der meines Vaters?“ Das Publikum lacht. Tessa Kim führt nicht nur deutsche, sondern auch US-Klischees vor, die New Yorker akzeptieren sie als humorvolle Botschafterin der Nation des Holocaust. Eine Gratwanderung, die einer deutschen Komödiantin so noch nie zuvor in den USA gelungen ist. „Viele Zuschauer konnten sich mit The Bad German identifizieren“, sagt Tessa Kim, als wir nach einem Auftritt in ihrer Garderobe sitzen, „vor allem die Angehörigen der jüdischen Gemeinde von New York. Ich habe nach den Vorstellungen oft mit ihnen darüber geredet, wie die nach dem Krieg Geborenen auf beiden Seiten jedes Gespräch vermeiden wollten. Und über die psychischen und psychologischen Probleme, die sich dadurch vor allem für meine, die zweite Nachkriegsgeneration ergeben haben.“So sieht das auch die Fachwelt. Der jüdische Psychoanalytiker Kurt Grünberg etwa beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Problemen. Im Nachkriegsdeutschland habe man sich zu wenig mit den Kindern, Enkeln und anderen Angehörigen der Täter beschäftigt, sagt Grünberg, meist sei es nur um den Krieg selbst gegangen und in den Familien die Rolle von Eltern, Onkeln, Tanten verheimlicht worden. Grünberg hat Paare analysiert, in denen ein Teil Kind oder Enkel eines Shoa-Überlebenden ist und der andere nichtjüdischer Deutscher. In seinem Buch Love after Auschwitz – The Second Generation in Germany (2006) verhandelt er die Konflikte, die in der Folge in den Beziehungen entstehen. Immer wieder beobachtete er ein generelles Misstrauen oder umgekehrt das Gefühl, der Partner würde Vorwürfe erheben.Auf der idealen BühneDer Vater hatte Tessa vor dem endgültigen Umzug nach New York einen besonderen Ratschlag gegeben. „Du wirst es dort nie zu etwas bringen“, sagte er, „denn da ist alles voller Juden.“ Da steht Tessa Kim nun auf der Bühne und blickt angestrengt in den Saal. „Wie wir alle wissen, kommen in jedem Jahr tausende Einwanderer nach New York, um sich selbst zu finden, wegen der Karriere oder um ihre Familien zu ernähren“, sagt Tessa Kim. „Deutsche kommen hierher wegen der Therapie.“ Sie habe sich selbst als Erstes eine Therapiegruppe gesucht. Nach und nach habe sie gelernt, sich selbst zu lieben. Und auf amüsante, lockere Art erzählt Tessa Kim, wie sie in New York von jüdischen Traditionen lernt, von der Mizwa, einem Weg zur höheren Glückseligkeit, vom Schabbat, wenn am Wochenende in manchen Hochhäusern die Fahrstühle stillstehen, oder vom koscheren Essen. Von jüdischen Müttern, die ihren Söhnen das Leben schwer machen mit der Jewish guilt, der „jüdischen Schuld“.Dabei lernt Tessa Kim auch, weniger deutsch zu sein. Sie macht den Bachelor in Theaterwissenschaft am Empire State College, und an der New Yorker Schauspielschule New School legt sie ihren Akzent ab. Mit ihren feinen Gesichtszügen, dem blonden Haar und den blauen Augen könnte sie ja genauso gut aus Minnesota stammen. Dabei trägt sie schwer an der Last, die ihr die Geschichte ihrer Heimat auferlegt – und an der Angst vor dem Offenbaren ihrer Identität, weil sie glaubt, sie würde als Deutsche abgelehnt. In Robert De Niros CIA-Thriller Der gute Hirte (2006) spielt sie die Übersetzerin für einen Nazi, erst später trifft sie im wirklichen Leben auf einen Überlebenden des Holocaust. „Ich hatte Hass erwartet und erfuhr Liebenswürdigkeit“, sagt sie am Ende ihres Stücks.Mit ihrem Gespür für die US-amerikanische Seele hat Tessa Kim einen Bühnencharakter entwickelt, der die ganze Absurdität von Vorurteilen, die Suche nach einem historischen Bewusstsein und nach Humanität in sich vereint. Tessa Kim dient die Stand-up-Comedy auch zur Versöhnung mit sich selbst und mit der eigenen Herkunft. New York City bietet dafür die ideale Bühne – die Stadt, die den Ruf hat, von Freiheit und Toleranz inspiriert zu sein, und deren Einwohner das Bewusstsein verbindet, es spiele keine Rolle, woher man kommt und welche Geschichte man hat. Der New York state of mind.Placeholder authorbio-1
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