Deutsche Hitparade

KEHRSEITE "Wieso Dr. Schiwago? Ihre werte Frau Mutter ist doch bereits ..." ...

"Wieso Dr. Schiwago? Ihre werte Frau Mutter ist doch bereits ..."

"Ich meine die Schicksalsmelodie aus dem Film Dr. Schiwago. Es war ihr Lieblingslied." Das würde nicht gehen, sagt der Mann und blickt betrübt auf seinen Schreibtisch.

"Warum nicht? Was spricht dagegen?"

"Im Prinzip nichts." Nur müsse er mir zu einer Weise raten, die sich auf einer Orgel intonieren lasse.

"Und die Schicksalsmelodie läßt sich nicht intonieren?"

"Im Prinzip schon." Nur wären keine Noten vorhanden. Oder ob ich zufällig ... Natürlich nicht. Wer hat schon die Noten seines Lieblingsliedes in der Schublade. Aber ich registriere den wohlmeinenden Hinweis. Ich werde mich also rechtzeitig kümmern müssen: "Trinke noch einen Whiskey vor deinem letzten Gang ... Es wird ein harter Whiskey ... Hang down your head, Tom Dooley."

Ich rufe mich zur Ordnung. Schließlich geht es hier nicht um meine Hinrichtung, sondern um die Beerdigung meiner Mutter.

"Und was jetzt?" frage ich besorgt.

Sein Gesicht hellt sich auf. Es gebe ein gewisses Repertoire, das er seinen Kunden anempfehle. Wenn er mir einige Vorschläge unterbreiten dürfe ... Ich nicke erwartungsvoll.

Alle Tage ist kein Sonntag. Ein sehr schöner Titel, der stets große Aufmerksamkeit fände. Das verwundert mich. So eine Binsenweisheit will ich meiner Mutter nun wirklich nicht antun.

Guten Abend, gute Nacht von Brahms werde oft gewünscht. Das verstehe ich nun überhaupt nicht: "Mit Rosen bedacht, mit Nelklein besteckt" entspräche ja noch den Tatsachen, aber "Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt"? Das könne nicht sein Ernst sein.

Was ich denn von Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein hielte. Das sei so mehr als behutsamer letzter Gruß zu verstehen. Hingegen wären Schlaf wohl nun Kamerad oder Ruhe müder Pilger eher spezifischer Natur ...

Ungehalten unterbreche ich ihn. Meine Mutter sei weder königlichen Geblüts, noch in der Kampfgruppe und auch nicht in der Kirche gewesen.

Nun, lenkt er ein, das wären ja auch nur Beispiele für die Vielfalt seines Repertoires. Er habe sein Angebot nach der Wende gottlob erweitern können. Das Riesengebirgslied etwa erfreue sich außerordentlicher Beliebtheit. - Gehört ja sozusagen fast wieder uns, wie er augenzwinkernd hinzufügt. Auch das Ostpreußenlied oder das Pommernlied könne man als regelrechte Renner bezeichnen.

Ich blicke wohl etwas erschrocken drein, und er fügt hastig hinzu: "Nicht, dass Sie denken ... Ich bin für alles offen. Sie können natürlich auch Brüder zur Sonne, zur Freiheit, Sohn des Volkes oder den Kleinen Trompeter haben."

"Meine Mutter hat nie ein Instrument gespielt", sage ich, "Trompete schon gar nicht."

Der Mann ist sichtlich konsterniert. "Ich habe hier noch etwas ganz Neutrales: Feierabend. Das würde die Gefühle Ihrer werten Frau Mutter gewiss nicht verletzen."

"Ja", antworte ich bitter, "'s ist Feierabend, 's ist Feierabend ..."

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