Deutschland klaut

Lebensmittel Unser Obst und Gemüse wird im Globalen Süden meist unter katastrophalen Bedingungen geerntet. Eine Reise rückwärts – vom Supermarkt nach Ecuador
Ausgabe 13/2018
Deutschland klaut

Illustration: Jonas Hasselmann für der Freitag

Berlin, Prenzlauer Berg, viel Mutter-Kind-Idylle, Biomärkte, ein Lidl-Supermarkt im Souterrain, neben der Treppe friert ein Vietnamese beim Zigarettenverkauf, treppab, gleich am Eingang rechts liegen Bananen, das Kilo 1,69 Euro mit Plastikbanderole, Fairglobe, kein Ursprungsland vermerkt. Daneben, ohne Bio, aber aus Kolumbien: 1,09 Euro. Bananen, des Deutschen zweitliebstes Obst. Sechs, sieben ergeben ein Kilogramm, 11,7 davon essen Deutsche im Schnitt pro Jahr, wichtigstes Herkunftsland ist Ecuador, der Preis ist im letzten Jahr noch einmal um 4,1 Prozent gesunken. Bananen haben Kohlehydrate, eine praktische Verpackung, waren einmal Sehnsuchtsobjekte: Südfrüchte, Zeichen von Wohlstand, Verbindungen; die gebogene Form – alter Witz – komme daher, dass sie um die DDR herumwüchsen.

„Was der Preis abbildet?“ Frank Braßel, graue Haare, kariertes Hemd, eigentlich Historiker, beschäftigt sich seit Jahrzehnten vor allem mit dem Herstellungsprozess der Bananengattung Musa x paradisiaca. Ihn interessieren Arbeits-, Menschen- und Umweltrechte, er leitet die „Make Fruit Fair!“-Kampagne von Oxfam Deutschland. Braßel hat zwischen Terminen Zeit für einen Kaffee: „1,09 Euro liegen noch über dem Kampfpreis. Edeka hatte vor kurzem ein Angebot von 66 Cent pro Kilo. Das zeigt vor allem eines: einen wahnsinnig hohen Ausbeutungsgrad von Menschen und Umwelt.“

Leipzig Ost, Schneematsch im Hinterhof, erster Sonnenschein, Gila Fritz heißt anders, trägt Stiefel und ihre bald zweieinhalbjährige Tochter. Die ist etwas fiebrig, will einen eigenen Stuhl, setzt sich, und Fritz kann erzählen. Davon, dass sie für das Peng!-Kollektiv recherchiert, Kontakte vermittelt, einen Song geschrieben hat. Pengs benutzen immer Pseudonyme in der Presse. „Deutschland geht klauen“ heißt ihre aktuelle Kampagne – in Supermärkten nämlich, weil die auch klauen würden, eine hübsche Provokation, es gibt Webseiten, Erklär-Filme, ein Musikvideo. Man kann spenden, das Geld geht an ausgewählte Produzenten.

Fritz würde Lebensmittel stehlen, „überhaupt kein Problem“, kurzer Blick auf die Tochter, sie erzählt von ihrem zweiten Kind, ebenfalls krank, man denkt an Verhaftung und Scherereien, irgendwie überflüssig, außerdem leben sie in einem Hausprojekt, bekommen Bananen und andere Lebensmittel vom Bio-Großmarkt. Und: Es geht nicht um Kleindiebstahl, es geht um Moral, um Ausbeutung, um Lebensverhältnisse. Gila Fritz hat fünf Jahre in Ostafrika gelebt, weiß, wie Blumen und Obst für den europäischen Markt hergestellt werden, wie die Arbeitsbedingungen sind, dass Plantagen bewässert werden, Menschen nichts zu trinken bekommen. „Es geht darum, den Finger in die Wunde zu legen. Darüber nachzudenken, wie solche Preise zustande kommen, auf wessen Kosten wir hier leben.“

Schutzkleidung? Handschuhe

Naranjal, Provinz Guayas, südwestliches Ecuador, knapp 30.000 Einwohner, subtropische Wälder, Berge, schwüle Hitze. Morgens um fünf klingelt der Wecker, Juan Bosque heißt ebenfalls anders, setzt einen Wasserkessel auf, draußen ist es stockdunkel, Instantkaffee, er küsst seine Tochter auf die Stirn, zieht sich kniehohe Gummistiefel an. Ein Freund nimmt ihn auf dem Motorrad mit, so ist es nur eine Viertelstunde Fahrt, um halb sieben beginnt die Arbeit, sechs Tage die Woche. Seinen richtigen Namen zu nennen, wäre gefährlich.

Heute ist Sektor IX dran, zehn Minuten von der Verpackungshalle entfernt, Bosque hat rote Handschuhe, andere Schutzkleidung gibt es nicht, auch nicht für Kollegen, die Bananen mit Pestiziden besprühen. Der Boden ist schlammig, es hat in den letzten Tagen viel geregnet, er schwitzt. Die Handschuhe sind zerschlissen, neue gibt es alle drei Monate, es sei denn, er kauft sich selbst welche.

Sie ernten zu zweit: Der Kollege trägt eine Stange, wie eine schwarze Lanze, mit dem scharfen Ende trennt er in drei Meter Höhe Stängel von Staude, an der ringsherum acht Reihen Bananen sitzen. Für den Export müssen die Früchte einwandfrei sein. Ein Team stülpt mit Pestiziden imprägnierte Plastiktüten über Bananenblüten. Das soll verhindern, dass Insekten in die Fruchtschale stechen. Drei Monate später prüfen sie, ob die Bananen Normgröße haben und geerntet werden können. Ein Hieb mit der Lanze, und 40 Kilo fallen auf Bosques Schulter.

Er balanciert die Bananen über einen schmalen Bambus-Steg, auf der anderen Seite des Bewässerungskanals wartet ein Kollege, hängt sie an die Haken eines Fahrgestells. Sind zehn Haken voll, zieht er sie mit der scheppernden Transportseilbahn zur Verpackungshalle, zum Chlorbad. Bosque kann kurz durchatmen – Pausen gibt es kaum, mittags gerade eine halbe Stunde. Bei der Ernte bekommt er 17 Dollar, in der Verpackungshalle 12,50 Dollar pro Tag. Nach allen Abzügen müssen er und seine Tochter mit 260 Dollar im Monat auskommen. Bezahlt wird nach Leistung: Niemand darf gehen, bevor nicht 70 Paletten voll sind. „Manchmal schaffen wir das auch erst um sieben Uhr abends. Zwölf Stunden zu arbeiten ist keine Ausnahme.“

Der Blick auf Lebensmittel öffnet ein Fenster zur Welt. Auf die Art, wie wir uns ernähren, was wir uns selbst wert sind. Auf das, was uns Arbeit und Lebensbedingungen von anderen wert sind. Im ersten Halbjahr 2017 sind in Deutschland 46.000 Tonnen Bananen und Südfrüchte mit einem Fairtrade-Siegel verkauft worden. Wenn das zweite Halbjahr eine ähnliche Statistik aufweist, ist die Quote im Vergleich zu 2016 weiter deutlich gestiegen, seit dem Absatzrückgang nach der Bankenkrise um mehr als das Zehnfache. Die Netto-Importquote von Bananen liegt in Deutschland bei 103 Millionen Tonnen. Fairtrade-Früchte machen 18 Prozent aus.

Zurück zum Lidl im Prenzlauer Berg, Bananen aus Kolumbien neben denen mit Fairglobe-Plastikbanderole: Im Supermarkt sind Bio- und Öko-Trends Beiwerk. Nach einer Studie der Wirtschaftsprüfer von PricewaterhouseCoopers kaufen vier Prozent der Befragten in Supermärkten vor allem Produkte mit Bio-Siegel. Zehn Prozent legen geringfügig mehr grüne Waren in den Einkaufskorb. Jeder Fünfte in der Studie (21 Prozent) gab an, keine Bio-Lebensmittel zu kaufen.

Für ihre Januar-Ausgabe hat die Zeitschrift Öko-Test Bananen geprüft. Fairglobe-Früchte bekamen ein „sehr gut“, konventionelle Bananen galten als „befriedigend“: Zwar wurden nur „geringe“ Spuren festgestellt, aber die Produzenten hantieren mit hochgiftigen Pestiziden.

Über die Seiten 130 bis 132 der neuen Studie der Acción Ecológica erstreckt sich eine Liste: 247 Pestizide und Fungizide. Viele sind in Europa verboten, alle gesundheitsgefährdend. Die Studie heißt „La otra guerra“ – der andere Krieg. Pestizide werden oft mit Propellerflugzeugen verspritzt, von oben kann man sehen, dass Dörfer nur wenige Meter neben Reihen von Bananenbäumen liegen. Was man nicht sieht: Arbeiter, die Bananen ernten, während das Gift gleichmäßig auf ihre Köpfe sinkt. Wie Haarspray legt sich Nebel auf Plantagen, Flüsse, Schulen. Arbeiter, Piloten; Dorfbewohner klagen über ähnliche Probleme: Kopfschmerzen, Schwindel, gereizte Augen, Schlafstörungen. Frank Braßel hat viele Arbeiter in Ecuador befragt. Der wichtigste Schutz vor dem Gift war eine Regel: „Wenn du das Flugzeug hörst, lauf.“

Ecuadors Menschenrechtskommission folgte 2007 Hinweisen der Landarbeitergewerkschaft ASTAC und stellte fest, dass bis zu einer halben Million Anwohner und Arbeiter dem Gift schutzlos ausgeliefert waren. Eines der gefährlichsten Fungizide, Mancozeb, wurde verboten. Es beeinträchtigt das zentrale Nervensystem, wird gegen Sikatoka gespritzt, die am weitesten verbreitete Bananen-Krankheit: Blattwelke lässt Bananen schneller reifen, gefährdet den Export. Ein Jahr später wurde Mancozeb wieder eingeführt. Exportgesellschaften und Agrarlobby hatten Druck gemacht. Die Krankheitsfälle nahmen wieder zu.

Bosque und Kollegen wissen wenig über die toxischen Mittel. „Mit den blauen Kugeln muss man vorsichtig sein, die sind heftig“, erzählt er. Hat vergessen, wie das Pestizid an den Wurzeln der Bananenbäume heißt, erinnert sich aber noch an den Tag, an dem der Notarzt einen Freund mit Blaulicht abholte: einer von Hunderten Arbeitern, die in den letzten Jahren mit Pestizid-Vergiftungen ins Krankenhaus mussten. Die Rate in Regionen mit Bananenplantagen ist besonders hoch.

Brennende Augen, Schwindel

Dazu kommt, dass nur ein Fünftel aller fumigadores, der Kammerjäger, mit Atemmasken oder Handschuhen arbeitet. „Eigentlich darf man nach dem Sprühen bis zum nächsten Tag die Plantage nicht betreten“, erzählt Bosque, die Regel lautet sogar: 24 Stunden. Meistens müssen sie nach anderthalb, zwei Stunden weiterarbeiten. Auf konventionellen Plantagen bekommen sie achtmal häufiger Magenprobleme und Durchfall als Arbeiter auf Bioplantagen, wie österreichische Mediziner 2016 in einer vergleichenden Studie feststellten. In Zellen der Wangenschleimhaut fanden sie bei Arbeitern auf konventionellen Plantagen signifikant häufiger Zellveränderungen als in einer Kontrollgruppe: ein höheres Krebsrisiko.

Was Bosque nicht weiß: Jeden Abend bringt er mit den Gummistiefeln, der Hose, in den Haaren Pestizide nach Hause. Siedlungen inmitten von Plantagen haben ungewöhnlich viele Missbildungen und Fehlgeburten, von 1.000 Kindern sind es 26 mit verkrüppelten Armen, Wasserköpfen und anderen Missbildungen. Ein Dutzend Mal mehr Fälle als in anderen Dörfern. Zum Glück: Seine Tochter ist gesund, hat keine der typischen Diagnosen wie Asthma, Diabetes oder Hautkrebs.

Leipzig Ost. Wenn man eine Weile mit Gila Fritz verbringt, durch die schon frühlingswarme Luft zur Universität fährt, beantwortet sie eine Frage, die man gar nicht gestellt hat. Dass sie sich nicht viel darum schert, wie „die Mehrheitsgesellschaft“ Dinge anfasst, denkt. „Ich habe kein Problem, die Dinge anders zu machen.“ In Burundi adoptierte sie ein gehörloses Kind, das lange auf der Straße lebte. Jetzt bastelt sie in Leipzig an Lösungen für Schule, Betreuung, vieles mehr. Ihr Hausprojekt ist Teil einer solidarischen Landwirtschaft, sie will in einem Schrebergarten gärtnern.

Fritz hat in Dresden studiert. Politisches Engagement hieß Demonstrationen, Blockaden, ein Polizist schlug ihr im Vorübergehen ins Gesicht, wurde dabei gefilmt und trotzdem freigesprochen. Hieß, in belagerten Räumen Angst zu haben. An der Peng!-Kampagne mitzuarbeiten bedeute, zu fragen, wie künstlerisch Politik sein kann. Auf Missstände hinzuweisen. Denen, die sich über einen Aufruf zum Diebstahl entrüsten, entgegenzuhalten, dass die Missstände anderswo viel größer seien.

In Ecuador beschäftigen Bananen rund 200.000 Menschen direkt. Ein Geschäft mit mehr als drei Milliarden Dollar Umsatz jährlich, lange informeller Sektor. Dann kam 2007 die Präsidentschaft von Rafael Correa Delgado, der eine „bürgerliche Revolution“ proklamierte, Arbeitsschutzgesetze verabschiedete, Armutsraten senkte. Im Bananensektor wurden schätzungsweise 60 Prozent der Beschäftigung formalisiert. „Aber“, erzählt Frank Braßel, der zwischen 2005 und 2011 selbst in Ecuador lebte, „weder unter den Neoliberalen, Bürgerrevolutionären noch jetzt den Dialogorientierten hat es einen klaren Einsatz für die Gewerkschaftsfreiheit gegeben. Auch wenn die im Gesetz steht.“ Im Land sind gerade drei Prozent der Arbeiter organisiert – selbst für Lateinamerika eine geringe Rate. Gerade verschlechtern sich die Zustände wieder: Die Gewerkschaft ASTAC schätzt die Rate der informellen Beschäftigung auf 60 Prozent. Arbeitszeit-Regelungen würden aufgehoben. Bei vielen Haciendas sei unklar, ob der Mindestlohn und der gesetzlich verankerte 13. und 14. Monatslohn korrekt gezahlt würden. Im Gegenteil, es gebe oft willkürliche Abzüge, Arbeiter müssten Schutzkleidung selbst bezahlen, Gewinnbeteiligung – ebenfalls Teil des Gesetzes – erhalte fast niemand. „Scheinbar macht die Branche keine Gewinne.“ Braßel sagt das mit fester Stimme. Lacht nicht.

„Früher habe ich gearbeitet wie ein Stier. Bin von einer Seite zur anderen gerannt, den ganzen Tag.“ Juan Bosque erzählt, Stolz in der Stimme, auch der Chef habe das bemerkt. Dann kam eine Operation, kamen Probleme: monatelang stechende Schmerzen. Deutsche Betriebsärzte stellen Patienten nach so einem Eingriff für sechs Wochen von körperlicher Arbeit frei. Nach 18 Tagen wurde Bosque für die Feldarbeit eingeteilt. Überhaupt, wer zur Krankenstation auf der Plantage gehe, werde abgewiesen, fehlen dürfe, wer einen glaubhaften Grund vorweist. Darüber entscheide die Krankenschwester oder der Chef. Bei drei unentschuldigten Fehltagen pro Monat droht die Kündigung.

Die Hacienda Matías, auf der er arbeitet, gehört zum Unternehmen Orodelti, das seit vielen Jahren Bananen an Lidl liefert. Samstags, für halbe Quote, zahlen sie nur acht Dollar. Juan Bosque kann nicht mehr schnell laufen, nicht mehr arbeiten wie ein Stier, die Tage strecken sich, bis das Pensum geschafft ist.

E-Mail an Kleber Siguenza, den Chef von Orodelti. Ob man ihn sprechen, die Plantage besuchen könne. Siguenza hatte nach Kritik von NGOs erklärt, dass man bei ihm immer vorbeikommen könne. Antwort nach drei Tagen: „Vor einigen Monaten hat die Finca Matías den Vertrag (...) mit der Ex- portgesellschaft, die Früchte (an Lidl) liefert, gekündigt. Da wir einen besseren Preis ausgehandelt haben, ermöglicht uns der neue Vertrag (...) alle nationalen Regulationen sowie die für internationale Zertifizierungen zu erfüllen. Das betrifft Umwelt-, soziale und steuerliche Vorschriften. Seitdem arbeiten wir für eine Exportgesellschaft, die Bananen in die USA, Russland und Japan verschickt.“ Nachfrage: Ob die harten Preiskalkulationen von Lidl dazu geführt hätten, dass die Regulationen nicht oder nur schwer eingehalten werden konnten? Siguenza schweigt.

Seit zwei Monaten ist Juan Bosque Gewerkschafter. Nicht ungefährlich: Schwarze Listen mit Namen von Gewerkschaftern kursieren in der Region, prominente Figuren erhalten Morddrohungen. Auf der Hacienda Matías wurde ein Kollege entlassen. Gewerkschafter, hatte Wochenendzuschläge gefordert, tuscheln Kollegen.

Bosque erzählt seine Geschichte erst stockend, dann, als befreie er sich von einer Last. Dass er nur die Grundschule besucht habe, es unmöglich sei, in der Region eine andere Arbeit zu bekommen. Der Kollege war ein Freund, als er nicht zurückkehrte, ging Bosque selbst zur Gewerkschaft, erfuhr, dass er ein Recht auf bezahlten Urlaub habe. Eine Kopie seines Arbeitsvertrages hatte er nicht, dabei ist er einer der wenigen, die offiziell angestellt sind. Entschlossenheit mischt sich in seinen Ton: „So kann es nicht weitergehen. Sie können uns nicht wie Sklaven behandeln.“

„Wir haben das geprüft“, sagt eine Lidl-Pressesprecherin am Telefon, der Verantwortliche für die Corporate Social Responsibility sei leider zu beschäftigt. Kein Interview, nicht mal am Telefon. Fragen gern per Mail. Für sechs Fragen kommen dann keine Antworten, sondern generelle Erklärungen: Man arbeite mit anerkannten Standards, habe Trainingsmaßnahmen durchgeführt, setze sich für die Umsetzung von Sozialstandards in der Lieferkette ein. Angeführt von dem Satz: „Die Achtung der Menschenrechte ist Lidl sehr wichtig.“

Man laufe immer Gefahr, in der eigenen Filterblase hängen zu bleiben. Gila Fritz lacht. Hat in Leipzig an einer Bushaltestelle gehört, wie sich Wartende über die Aktion unterhielten, aber: In ganz Leipzig Ost gibt es einen einzigen Bioladen, extrem teuer. Sie sieht die Dinge nüchterner, etwas ab vom heißen Kern der Berliner Aktivisten, die am Wochenende, als sich die SPD per Sonderparteitag zur Großen Koalition durchrang, am Telefon jubelten: „Ganz Deutschland diskutiert über unsere Aktion.“

Discounter an der Macht

Fritz geht es um einen größeren Begriff, der die Welt umspannt, ihr Adoptivkind aus Burundi genauso mitdenkt wie Nachbarn im Viertel. Es geht um Verantwortung. In der Tram trinkt einer Pfefferminzlikör direkt aus der Flasche, Boxergesicht, sein Rauhaardackel heißt Sheila; manche sprechen Arabisch, manche Russisch, andere Englisch mit pakistanischem Akzent: Es ist bunter hier, oft ärmer, viele Geflüchtete. Realität in Leipzig Ost sei, dass Menschen auf Discounter angewiesen sind, oft reicht es überhaupt nicht für Bananen. „Das müssen wir mitdenken. Auch die Leute, die bei Lidl für den Mindestlohn arbeiten. Es kann aber nicht sein, dass Konsumenten Produkte angeboten werden, die unter Missachtung von Menschenrechten und mit Zerstörung der Umwelt produziert werden.“

Fritz und Peng! wollen zeigen, dass es zwischen Menschen wie Juan Bosque und dem Leipziger Osten, zwischen Missbildungen in Arbeitersiedlungen und dem Supermarkt am Eck eine Verbindung gibt – zum Beispiel billige Bananen. In gewisser Weise ist das ein sozialdemokratischer Gestus, in Zeiten, wo die Sozialdemokratie anderweitig beschäftigt ist: Sie fordern vom Staat Unterstützung für einen Gesetzesvorschlag, der menschenrechtliche Sorgfaltspflichten für Unternehmer durchsetzen will. Frank Braßel macht einen Vergleich auf: Die Produktionskette von Bananen werde intern lückenlos überwacht. Qualitätskontrolle. Prüfer wüssten exakt, woher welche Kiste komme, Produktion und Lieferkette seien für das Unternehmen transparent. „Aber Arbeiter können sich nicht beschweren, geschweige denn ihre Rechte einklagen. Und die Discounter erzählen uns, sie wüssten nichts, könnten nichts für Verstöße.“ Unternehmensverbände lehnen das Gesetz ab. Zu viel Bürokratie.

Das Bundeskabinett beschloss im Dezember 2016 einen Nationalen Aktionsplan gegen Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten, setzt auf freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen. Mit Stichproben soll bei Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern überprüft werden, ob sich bei der Hälfte der Unternehmen etwas verbessert hat. Ein Gesetz schlug das Kabinett dem Parlament nicht vor. Frank Braßel atmet scharf aus. „Ist mir ein großes Rätsel, warum die Einhaltung von Menschenrechten nicht vom Staat gesetzlich geregelt werden soll.“ Bei roten Ampeln würde auch niemand auf Selbstverpflichtung der Autofahrer setzen, nach zwei Jahren Stichproben erheben.

Nachfrage beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS). Unterhalb von Staatssekretären dürfe niemand Interviews geben, neue Staatssekretäre arbeiten sich gerade ein, Fragen bitte schriftlich. E-Mail: „Warum verzichtet die Bundesregierung auf eine verbindliche Regelung von Menschen-, Arbeits- und Umweltrechten?“

Die Arbeitsbedingungen von Juan Bosque verstoßen gegen das ecuadorianisch Arbeitsschutzgesetz. Nach Leistung bezahlt zu werden: illegal. Der Mindestlohn soll für 40 Wochenstunden gelten, die Pause eine Stunde am Tag betragen. Unternehmen müssten Schutzausrüstung bereitstellen. An Feiertagen und Wochenenden den doppelten Tagessatz zahlen.

Bananen für Lidl tragen das Siegel der Rainforest Alliance. Das bedeutet keinen garantierten Mindestpreis, unzureichende Pestizid-Regularien, kritisierte Öko-Test. Braßels Kritik geht weiter: Rainforest Alliance sei eher Greenwashing, ein Siegel, hinter dem sich Discounter verstecken, Verantwortung abgeben. In Ecuador überprüfe niemand systematisch, ob Standards, Schutzregeln, Gesetze eingehalten würden: „Keiner, mit dem ich vor Ort zu tun hatte, erzählte mir, dass Rainforest Alliance eine Beziehung zu den Arbeitern auf einer Plantage hergestellt, ihnen zugehört, ihre Beschwerden aufgenommen hätte.“ Wenn die Prüfer der Allianz kämen, würden sie als Teil der Geschäftsleitung wahrgenommen.

Die Pressestelle des BMAS schreibt, dass man mit dem Aktionsplan Aufforderungen der EU-Kommission nachgekommen sei, im Einklang mit Erklärungen von G7 und G20 und den UN-Leitprinzipien stünde. Der Nationale Aktionsplan markiere „den Ausgangspunkt eines Prozesses (...), der kontinuierlich fortgeschrieben und weiterentwickelt wird. Der NAP legt in diesem Zusammenhang fest, dass, sofern im Jahr 2020 keine ausreichende Umsetzung im Sinne des NAP erfolgt, die Bundesregierung weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen und zur Erweiterung des Kreises der in der Überprüfung zu erfassenden Unternehmen prüfen wird.“

Jahrelang haben deutsche Lidl-Verbraucher Rainforest-zertifizierte Bananen der Hacienda Matías gegessen. Seit Oxfam vor zwei Jahren mit Schilderungen der Zustände und im letzten Herbst mit Aktionen in Läden Druck auf Lidl aufbaute, bekam die Plantage viel Aufmerksamkeit: Rainforest Alliance und das ecuadorianische Institut für Menschenrechte schickten Inspektoren, viel Presse fragte an. Anfang des Jahres entzog Rainforest der Plantage vorläufig das Gütesiegel. Kein Export mehr nach Deutschland. Mehr Fragen an Kleber Siguenza, keine Antworten. Juan Bosque erzählt, die Flugzeuge versprühten jetzt am Samstag Pestizide. Wenn die Arbeiter gegangen seien.

Es sei ein Privileg, sagt Gila Fritz, sich mit Konsequenzen des eigenen Lebens für andere beschäftigen zu können, mit Kunst. Wenn man sie nach der Logik der Kampagne von Peng! fragt, danach, wie sich ein überraschtes „Ach?“ der Käufer in Druck auf Discounter verwandele, setzt sie an, bricht ab. Erzählt vom Gesetzesvorschlag, von NGOs, stellt fest: „Stimmt, da ist eine Lücke, ich merke, ich schwimme. Muss ich drüber nachdenken.“

Juan Bosque, Erde unter den Fingernägeln, jugendliches Gesicht, hat jahrelang für einen der mächtigsten Discounter in Deutschland Bananen geerntet. Zum Schlafen legen seine Tochter und er Matratzen in die Küche. Er spart auf ein Fahrrad für sie, kommt nicht voran. „Was bleibt mir anders übrig, als hier zu arbeiten?”

Frank Braßel muss los. Eine Frage noch, ist Bananenhandel eine mafiöse Struktur? Braßel zögert, kennt sich mit Mafia nicht aus, will nur so viel sagen: „Es ist ein System, bei dem Verantwortung wegdelegiert wird, Prozesse intransparent gehalten, Rechte unterlaufen werden, damit die Schwächsten ausgebeutet werden können.“

Lennart Laberenz ist Autor und lebt in Berlin. Theresa Leisgang arbeitet als freie Journalistin und recherchiert derzeit in Ecuador.

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