Ihr zuzuhören ist anstrengend. Anstrengender wäre wohl nur, selbst in Björks Haut zu stecken. Wenn die isländische Künstlerin ihr Publikum wirklich überraschen wollte, müsste sie einfach mal in Jeans und T-Shirt hervortreten. Tatsächlich ist jede neue Platte ein synästhetischer Großangriff aus postmodernen Bildern, experimentellen Videos, exotischer Mode – und, ach ja, Musik. Fast meint man, sie riechen zu können. Moschus und Salz.
Wo Björk ist, dort ist vorne. Eine Madonna hat sich mit jedem Album „neu erfunden“, bis es niemand mehr sehen wollte. Bei Lady Gaga hat sich diese Logik der Überbietung noch schneller erschöpft – ihr „Art Pop“ war zuletzt der allzu durchschaubare Versuch, mit
rsuch, mit der Brechstange in den Palast einzudringen, in dem Björk seit 1993 unumschränkt gebietet. Erstaunlich, dass sie seit 1993 (Debut) ihren Nimbus scheinbar mühelos behalten hat. Anders als die Verkäufe ihrer Platten ist ihr Status als Ikone einer immerwährenden Avantgarde keinerlei Schwankungen unterworfen.Woran liegt das? Spätestens zu Utopia könnten die Augen rollen. Welche Björk haben wir denn diesmal? Ihre aktuelle Inkarnation ist ein weiblicher Pan, nordisch und hinduistisch zugleich, mit umgeschnalltem Dildo und Vagina wahlweise auf der Stirn oder der Brust. Andere Bilder zeigen sie als präraffaelitische Wasserleiche, der märchenhafte Korallen aus dem Mund wachsen. Der Look trägt die Handschrift von Jesse Kanda, das Kleid ist von Gucci, die Beats sind vom venezolanischen Produzenten Arca. Die Ikonografie könnte ebenso von Egon Schiele sein wie von ihrem Ex-Ehemann, dem Künstler Matthew Barney (Cremaster), von den Ausstattern von Fluch der Karibik oder von Avatar, wenn sie sich von Hayao Miyazaki hätten beraten lassen. Die restlose Entzifferung ihres hochartifiziellen Arsenals an Codes und Zeichen und Referenzen böte genug Stoff für eine kunsthistorische Doktorarbeit. Das, ohne auch nur einen Ton von Utopia gehört zu haben. Dabei könnte das Narrativ, mit dem Björk ihr neuntes Album präsentiert, simpler kaum sein. Vulnicura thematisierte 2015 Trennung, Utopia ist Aufbruch, Wiedergeburt. Das geht nicht unbedingt über das klassische I Will Survive einer Gloria Gaynor hinaus. Musikalisch klingt es sehr avanciert, als hätte sich eine gasförmige Lebensform von der Venus zu einer Coverversion herabgelassen.Ein Irren, ein SchwirrenIm Kern handelt es sich um Kammerpop, mäandernde Kompositionen, wie sie beispielsweise Joanna Newsom zur Harfe vorträgt. Björk allerdings spielt das Gezwitscher tropischer Vögel ein, das sie auf einer südamerikanischen Schallplatte aus den 1970er Jahren gefunden hat – und kombiniert es mit dem Gesang von Vögeln aus ihrer isländischen Heimat. Stützte sich Medúlla auf die verfremdete menschliche Stimme, Vespertine auf das Harmonium oder Homogenic auf die Beats, steht diesmal eine zarte Flöte im Mittelpunkt. Mal nackt und alleine, mal als Amalgam aus zwölf verschiedenen Flöten, aufgenommen in isländischen Kirchen und nachträglich verfremdet.Ähnlich organisch – oder eben nicht – ging sie mit einem Chor weiblicher Stimmen um, der Utopia zwischen dem Unwirklichen und dem Bewährten, der Tradition und der Zukunft oszillieren lässt. The Gate setzt mit seinem euphorischen Refrain („I care for you, I care for you“) den Ton für die komplette Platte, die sie einmal scherzhaft als ihr „Tinder-Album“ bezeichnet hat. In Courtship geht es tatsächlich um Onlinedating, um die typische Wischbewegung, aber auch hier schleicht sich kein Kulturpessimismus ein. Alles bleibt luftig und schwerelos und heiter.Was sicher auch an ihrer Kooperation mit Alejandro Ghersi alias Arca (Kanye West, FKA Twigs, Kelela, Frank Ocean) liegt, der mehr als jeder andere Produzent zuvor an den eigentlichen Kompositionen beteiligt war – und am Gesamtkunstwerk. Jesse Kanda, dessen hypersexualisierte und biomorphe Schlüpfrigkeiten das Cover prägen, ist sein Freund und Mitbewohner. Björk, 51, hat in dem 28-Jährigen ihren idealen Sparringspartner gefunden. Gemeinsam besuchten sie queere Partys in New York oder den Dschungel, schickten sich Ideen im MP3-Format hin und her. Arcas eisige Rhythmen und atomisierte Geräuschwände stützen die Melodien wie ein Exoskelett, selten klang seine Arbeit so zärtlich und milde.Bei so viel kombiniertem Desinteresse an Konventionen versteht es sich von selbst, dass hier nichts „sofort ins Ohr“ geht. Die Musik ist suchend, oft ohne Puls, dann aber mit hämmernder Intensität immer dort, wo es geboten scheint. Bestenfalls folgt man dem Irren und Schwirren dieser unverwechselbaren und alterslosen Stimme wie dem Flug eines Vogels in eine Gewitterwolke. Strukturen lassen sich hier über weite Strecken nur erahnen, dafür ist die klangliche Atmosphäre – dicht, feucht, warm elektrisch aufgeladen – von einer detailverliebten Qualität, wie man sie nur sehr selten hört. Utopia will, wie alles von Substanz, erarbeitet sein. Je extravaganter die visuelle Verpackung, umso mehr staunt man über den glühenden Kern dieser Kunst – eine Ehrlichkeit, wie sie nackter nicht sein könnte.Placeholder infobox-1