Gäbe es parlamentarische Guinness-Rekorde, Polen wäre mit der fast drei Monate zurückliegenden Sejmwahl ein heißer Kandidat. Die von Jerzy Buzek geführte konservative Parteienkoalition aus Wahlaktion Solidarnosc (AWS) und Freiheitsunion (UW) wurde - dank der Fünf-Prozent-Hürde - von der Regierung schnurstracks in die außerparlamentarische Opposition durchgereicht. Ob es von dort eine schnelle Rückkehr wenigstens in den Sejm gibt, ist keineswegs sicher. Aber auch, dass Premier Leszek Miller mit der Allianz aus Demokratischem Linksbündnis (SLD), Union der Arbeit (UP) und Bauernpartei (PSL) eine volle Legislaturperiode durchsteht, darf bezweifelt werden.
Ein Haushaltsloch von umgerechnet 40 Milliarden DM hat die Regierung Buzek ihren Nachfolger
t die Regierung Buzek ihren Nachfolgern hinterlassen, mit Steuererhöhungen, Ausgabenkürzungen und einem "Verschlanken" des öffentlichen Dienstes soll es gestopft werden. Das hebt nicht gerade die ohnehin gedrückte Stimmung im Land. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bereits jetzt bei 16 Prozent und fast die Hälfte der polnischen Bevölkerung lebt unter dem offiziellen Existenzminimum. Abgeordnete der abgewählten Regierung, die sich - zum Teil mit Mitgliedsbüchern neugegründeter Parteien - noch rechtzeitig auf die Oppositionsbänke retten konnten, zeigen sich hinter vorgehaltener Hand erleichtert, dass der Kelch dieses Regierungsauftrages an ihnen vorbeigegangen ist.Das Wahlergebnis vom 23. September (s. Übersicht) ist keineswegs verdaut. Noch immer schlagen in den Medien die Wellen hoch, und auch in der Bevölkerung liegen schon mal die Nerven blank. So hat die eher beiläufige Ankündigung von Finanzminister Marek Belka, recht bald eine 20prozentige Quellensteuer auf bestimmte Kapital- und Zinserträge einführen zu wollen, zu langen Warteschlangen vor den Kreditinstituten geführt. Jeder will das Ersparte rechtzeitig steuersparend umleiten. Auch für Tragikomik ist gesorgt. So hat der noch von der Vorgängerregierung eingesetzte Ombudsmann für Menschenrechte jüngst vorgeschlagen, eine Bewegung gegen die Ratlosigkeit in der Gesellschaft ins Leben zu rufen.Extrem schwierige Situationen setzen jedoch stets auch Kräfte frei. So zerschlug Premier Leszek Miller den zwischen Warschau und Brüssel extrem verworrenen Knoten der Übergangsfristen für die heiklen Themen Landerwerb und Arbeitnehmerfreizügigkeit bereits kurz nach Amtsantritt und beendete damit das über viele Monate gepflegte Blinde-Kuh-Spiel beider Seiten. Statt bisher geforderter 18 Jahre Übergangsfrist für Landerwerb durch Ausländer will Miller jetzt nur noch 12 Jahre Schutz für die niedrigen Grund- und Bodenpreise. Wenn Land von Ausländern für Investitionszwecke gekauft wird, soll die dafür bisher geforderte Fünf-Jahres-Frist gänzlich entfallen. Zähneknirschend wird auch die nicht mehr verhandlungsfähige Position der EU-Kommission einer insgesamt siebenjährigen Übergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptiert. Allerdings in der stillen Gewissheit, bei den obligatorischen Überprüfungsrunden nach zwei Jahren die Verlängerungsoption für Österreich und Deutschland auszubremsen. Mit diesem Schachzug hat Miller nicht nur in Polen das Eis gebrochen - der Ball liegt damit nach viel Geplänkel wieder im Feld der Brüsseler Eurokraten.Und da kann er nach Ansicht von Leszek Miller zumindest bis zum Jahresende liegen bleiben, bevor es mit der Eingliederung des polnischen Agrarsektors in den europäischen Binnenmarkt ab Januar unweigerlich zum Finale der Beitrittsverhandlungen kommt. Immerhin ein Thema, an dem sich in Polen bisher niemand die Finger verbrennen wollte, das aber mit EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen bereits Ende 2002 fix und fertig verhandelt sein muss. Nicht alle Höfe werden einen EU-Eintritt erleben, geschweige denn überlebenPolen hat bei seinen Konzessionen auf anderen Feldern Brüssel recht deutlich zu verstehen gegeben, man erwarte im Gegenzug volle Gleichberechtigung beim Zugang zu EU-Agrarsubventionen und der Gewähr von Produktionsquoten. Nicht nur Jahrhunderte lange bäuerliche Traditionen, auch harte ökonomische Fakten kennzeichnen den nach wie vor besonderen Stellenwert der Landwirtschaft für den mit Abstand bevölkerungsreichsten EU-Kandidaten. In keinem der übrigen Beitritts-Länder arbeiten deutlich über zehn Prozent der Erwerbsbevölkerung in der Landwirtschaft. Bezieht man ergänzende Einkommen und Subsistenzwirtschaft mit ein, leben fast 25 Prozent der Polen mehr oder weniger von diesem Sektor. Gleichzeitig ist das Land Nettoimporteur von Lebensmitteln, untrügliches Zeichen für geringe Produktivität. Die Überführung dieses Sektors in die anachronistisch regulierte und hoch subventionierte EU-Agrarwirtschaft gleicht nüchtern betrachtet einem Himmelfahrtskommando.Jaroslaw Kalinowski (PSL), neuer Landwirtschaftsminister und Vizepremier der Koalition, sieht denn auch die einzige Chance in einer rigorosen Flucht nach vorn: "Wir haben Brüssel auch für den Umgang mit dem polnischen Agrarsektor unsere Vorstellungen unterbreitet und warten jetzt auf eine Antwort. Ich kann noch zwei bis drei Monate warten, aber dann müssen Entscheidungen gefallen sein."Die Ausgangssituation gilt als äußerst prekär, wenngleich das Bild regional unterschiedlich ist. Durchschnittlich größeren Gütern im Norden und Westen Polens stehen vor allem im Süden viele Landwirte mit handtuchgroßen Feldern von kaum drei Hektar und einer für das wirtschaftliche Überleben viel zu geringen Zahl von Nutztieren gegenüber. Mit dem seit langem fälligen, aber von allen bisherigen Regierungen vermiedenen Eingeständnis, dass nicht alle Höfe einen EU-Eintritt erleben, geschweige denn überleben werden, führt Kalinowski eine der heiligsten polnischen Kühe zur Schlachtbank und riskiert damit auch Kopf und Kragen für seine Partei.Der Minister neigt zu einer Drittelrechnung: "Von den zwei Millionen Bauernwirtschaften sehe ich etwa 700.000 als wettbewerbsfähig an" - nach Ansicht anderer Fachleute ein illusorischer Wert - "ungefähr ein Drittel hat solche Chancen nicht, vor allem ältere Bauern und solche mit sehr kleinen Feldern. Das Schicksal des mittleren Drittels wird ganz entscheidend davon abhängen, ob und wie weit die EU direkte Hilfen für das erste Drittel genehmigt. In der mittleren Gruppe sehen wir Chancen für Zuliefer-, Verarbeitungs- und Dienstleisterfunktionen." All dies soll durch finanziellen Druck gesteuert werden. Im nächsten Jahr stehen zwei Gesetze an, die nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaften den Verkauf oder die langjährige Verpachtung von Grund und Boden mit einer Rente versüßen oder Aufforstungsprämien für Bauern mit minderwertigen Böden vorsehen.Ob diese Rechnung politisch einigermaßen lautlos aufgeht, ist mehr als offen. Noch ist kein offizieller Kriterienkatalog der Regierung für die Einteilung in die genannten Kategorien bekannt. Ein Warten darauf käme für Bauern, die sich Chancen ausrechnen, auch zu spät. Um produktiver zu sein, fahren viele Bauernwirtschaften mit kreditfinanzierten Modernisierungen schon jetzt in vollem Tempo in den dunklen Tunnel der EU-Agrarpolitik hinein, ohne zu wissen, ob und wann, vor allem aber wie sie am anderen Ende wieder herauskommen. Noch ist auch völlig unklar, ob es gelingt, für das wackelige mittlere Drittel der Bauernbetriebe tragfähige Auffang- und Alternativstrategien zu entwickeln und sie gemeinsam mit den Betroffenen umzusetzen. Hier gibt es im gnadenlosen polnischen Kapitalismus keinerlei Erfahrungen. Die Einsicht in diese Anpassungsprobleme war es auch, die schon 1999 zum Anpassungsprogramm SAPARD (Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development)der Europäischen Kommission für alle EU-Beitrittskandidaten führte. Zwischen 2000 und 2006 stehen dadurch allein Polen jährlich rund 170 Millionen Euro zur Verfügung. Einige dicke Tropfen - auf einen allerdings ziemlich heißen Stein - im Interesse von Marketing, Produktverarbeitung, Verbraucherschutz, Qualifizierung und Investitionen für ländliche Entwicklung. Die vertrauensbildende Wirkung auf die EU-skeptischen Bauern steht außer Zweifel. Auch hier ist man allerdings im Zeitverzug. Durch die von Polen erst vor kurzem geschlossene Lücke der Kofinanzierung von SAPARD und gewisse Trägheitsmomente der Verwaltung ist der eigentliche Start der Förderung noch immer nicht abzusehen. Immerhin hat Warschau erreicht, dass die 2000er Gelder nicht verfallen, sondern thesauriert werden konnten.Glaubt man den Umfragen, käme Andrzej Lepper jetzt landesweit auf 16 ProzentKaum jemand in Polens Politik ist derzeit so zum Erfolg verdammt wie Agrarminister Kalinowski - zum Druck des Beitrittstermins, zu geringen Finanzen und einer stockkonservativen Mitgliedschaft im Rücken gesellt sich noch der politische Hauptkonkurrent: Andrzej Leppers Protestpartei Samoobrona (Selbstverteidigung), die mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen seit Jahren zum Widerstand gegen den EU-Beitritt aufruft und damit ebenfalls auf die bäuerliche Wählerschaft schielt.Noch hat der selbst ernannte Bauernkrieger Lepper, der seine Reden des öfteren mit antisemitischen Untertönen versieht, bei den letzten Parlamentswahlen aus den ländlichen Regionen nur sieben Prozent und den Rest seines Ergebnisses von 9,9 Prozent bei den Verlierern der Marktwirtschaft in den Städten geholt. Glaubt man den Umfragen, käme Lepper jetzt - nur zwei Monate später - landesweit auf 16 Prozent. Sollte Kalinowski seinen Wettlauf gegen Zeit und Geld verlieren, könnte Samoobrona durchaus einen Flächenbrand unter Polens Bauern auslösen. Auch ein Regierungsaustritt dürfte der PSL dann wenig nutzen. Niemand würde es der Partei abnehmen, wollte sie Lepper nach einer solchen Kehrtwende in anti-europäischer Demagogie - vor allem auf dem Lande - überbieten. Aktuell beugt sich Lepper bei seinem Feldzug dafür auch der Dialektik. Um mit dem Hassthema EU-Beitritt künftig auch außerhalb Polens in den Medien zu punkten, nimmt er gerade Englisch- und Französischunterricht.Tabelle 1: Tabelle 2: Der Autor weilte mit eine Delegation der Bundeszentrale für Politische Bildung in Polen.
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