Die Abschiebe-Experten

Afghanistan Wie die Bundesregierung die Verantwortung für das Rettungsdesaster herumreicht, demonstriert katastrophales Politikversagen
Ausgabe 34/2021
Würden diese Beamten so arbeiten wie ihre Minister, es wäre wohl niemand aus Kabul ausgeflogen worden
Würden diese Beamten so arbeiten wie ihre Minister, es wäre wohl niemand aus Kabul ausgeflogen worden

Foto: Marc Tessensohn/Bundeswehr/Getty Images

Es soll Leute geben, die den gescheiterten Afghanistan-Einsatz als Geschichte eines katastrophalen Politikversagens lesen. Das sind, genau genommen, die meisten (Fach-)Leute. Aber natürlich haben sie sich alle geirrt, wie wir von unserer Bundeskanzlerin wissen.

In Angela Merkels Wirklichkeit stellt sich die Lage zwar „bitter, dramatisch, furchtbar“ dar. Aber Versagen, welches Versagen? Die Politik des Demokratieexports per Militäreinsatz ist, mit Merkels Worten, einfach nur „nicht so geglückt und nicht so geschafft worden, wie wir uns das vorgenommen haben“.

Das klingt wie der Kommentar eines Fußballtrainers, dessen Mannschaft nur unentschieden gespielt hat. Um es freundlich auszudrücken: Diese Formulierungen sind nicht so geglückt, wie wir uns das vorgestellt haben. Weniger freundlich ausgedrückt: Sie stehen stellvertretend für die zynische Tonmischung aus Realitätsverweigerung und Unverantwortlichkeit, von der die Diskussion in Deutschland seit dem Triumph der Taliban bestimmt wird. Das gilt sowohl für die desaströse Bilanz des 20-jährigen Einsatzes als auch für die viel zu lange unterlassene Hilfeleistung für die „Ortskräfte“, die nun ganz sicher Menschenleben kosten wird.

Während die verschwurbelten Verharmlosungsformeln der Kanzlerin mal wieder fast kritiklos hingenommen werden, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Ebene darunter. Beteiligte Minister ergehen sich zwar weniger in Verharmlosung, aber dafür umso mehr in Abstreiten und Abwälzen von Verantwortung. Das gilt in besonderem Maße für Außenminister Heiko Maas von der SPD und – in der Öffentlichkeit weniger wahrgenommen – für Innenminister Horst Seehofer von der CSU.

Wie verlogen das ist

Seehofer ist ja ohnehin ein Freund des Abschiebens, bis vor Kurzem auch nach Afghanistan. Aber er beherrscht das Abschieben auch, wenn es um Verantwortung geht. Unter anderem für die Ortskräfte, die in Afghanistan für die Bundeswehr oder die deutsche Polizei oder in der Entwicklungshilfe gearbeitet haben. Seine Botschaft: Was auch immer schiefgelaufen ist, wir waren es nicht.

Wie verlogen das ist, zeigt ein Blick zurück. Am 23. Juni lehnte der Bundestag einen Antrag der Grünen ab, in dem gefordert wurde, die Ausreise von Ortskräften in einem sogenannten Gruppenverfahren zu organisieren. Das hätte den oft schwierigen Nachweis einer speziellen, individuellen Gefährdung überflüssig gemacht.

Der Antrag, in dem die längst offensichtliche Gefährdung der Ortskräfte klar benannt wurde, trägt das Datum 10. April 2019. Mehr als zwei Jahre später verzeichnet das Bundestags-Protokoll die Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD – gemeinsam mit der AfD.

In der Debatte sagte der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei: „Es ist eben nicht so, dass man allein aufgrund der Tätigkeit für die Bundesrepublik Deutschland, in welcher Form auch immer, automatisch Rückschlüsse auf eine lebensgefährdende Situation ziehen kann, weil die Sicherheitslage in Afghanistan höchst unterschiedlich ist.“ Als hätte er nicht gewusst, was unter anderem US-Geheimdienste längst vorausgesehen hatten: dass ein Abzug der ausländischen Truppen zum Durchmarsch der Taliban führen könnte.

Und die SPD? Wer dort heute nachfragt, wird belehrt, dass sich das Außenministerium von Heiko Maas doch innerhalb der Koalition immer wieder für ein erleichtertes Ausreiseverfahren eingesetzt habe. Einen Antrag der Opposition habe es dazu nicht gebraucht. Auf Deutsch: Das Bemühen, Menschenleben zu retten, endete an der Grenze zur Koalitionsräson. Aus Überzeugung für eine humane Lösung zu stimmen, notfalls abweichend vom Partner, ist im deutschen Parlamentarismus nicht vorgesehen.

Dass über all dem das Motto „Migration so restriktiv wie möglich“ schwebte, zeigte sich dann später überdeutlich. Kanzlerkandidat Armin Laschet war nach dem Durchmarsch der Taliban mit dem Mantra „2015 darf sich nicht wiederholen“ so schnell bei der Hand wie viele andere in CDU und CSU.

Am 19. August gab Horst Seehofer dann seine Verantwortungs-Abschiebe-Pressekonferenz, gemeinsam mit Staatssekretär Hans-Georg Engelke. Brav betonte er, dass es für die Evakuierung der Ortskräfte „eine große moralische Verantwortung gibt“. Aber mussten nicht Menschen, die ausfliegen wollten, sich ihr Visum für lange Zeit in Delhi oder Istanbul besorgen, weil es in Afghanistan praktisch keine konsularische Vertretung Deutschlands mehr gab? Dafür, so Staatssekretär Engelke, sei sein Haus „nicht zuständig“.

Wer seinen Flug selber bucht, kommt ohne Visum nicht in die Maschine. Logisch, denn „wir wollen uns vorher überzeugen, wer nach Deutschland reist“, so Staatssekretär Engelke. Damit ist ohne Zweifel die übliche Praxis beschrieben. Aber hätte die Regierung selbst Flugzeuge gechartert, um die Ortskräfte auszufliegen, dann hätte die Visavergabe inklusive Sicherheitsüberprüfung in Deutschland stattfinden können. Was aber nicht geschah.

Warum? Seit Ende Mai, so Engelke, sei das Ministerium bereit gewesen, sich auf dieses Verfahren („Visa on arrival“) einzulassen. Allerdings nur, wenn es „hart auf hart kommt“ in Afghanistan. Dumm nur, dass es offenbar erst „hart“ genug war, als die Taliban schon an die Haustüren der Hauptstadt Kabul klopften: „Visa on arrival“ gilt nicht seit Ende Mai und nicht seit Mitte Juni, sondern seit Sonntag, dem 15. August. Es sei das Innenministerium gewesen, beklagt die SPD, das die Umsetzung des neuen Verfahrens immer weiter hinausgezögert habe.

Zwei Chartermaschinen, mit denen das Verteidigungsministerium am 25. Juni 300 Personen aus Masar-i-Scharif ausfliegen wollte, wurden wieder abbestellt. Warum? „Zu dem geplanten Durchführungszeitpunkt konnten die Voraussetzungen wie Pass und Visa für die sichere Abfertigung der möglichen Passagiere vor Ort nicht mehr erfüllt werden“, verlautete es vergangene Woche aus dem Haus von Annegret Kramp-Karrenbauer.

An wem das nun wieder lag? Die CDU-Verteidigungsministerin äußert sich dazu nicht. Sie hält sich beim „blame game“ genannten Verantwortungs-Abschiebe-Spiel zumindest in der Öffentlichkeit zurück – sei es aus Anstand oder aus der Erkenntnis, dass sie sonst nur Aufmerksamkeit auf sich lenken würde. Das Innenministerium will laut Seehofer auch mit den geplatzten Charterflügen nichts zu tun gehabt haben.

Offenbar auch nicht mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, obwohl es Seehofers Haus untersteht. Dort lagen nach Informationen des Evangelischen Pressedienstes Anfang der vergangenen Woche 4.200 „Gefährdungsanzeigen“ von Ortskräften vor. Davon waren 237 positiv beschieden worden, aber 329 negativ – und 3.600 noch gar nicht.

„Wir zeigen auf überhaupt niemand anders“, sagte Seehofer noch, und das stimmt: Er zeigt nur von sich weg. Und Staatssekretär Engelke gleich mit: Dass die Sicherheitslage in Afghanistan so lange so falsch eingeschätzt worden sei, das sei womöglich zu kritisieren, sagte er. Aber dafür solle man doch bitte „alle“ verantwortlich machen und nicht ausgerechnet sein Haus.

Damit kommt Heiko Maas wieder ins Spiel. Der Außenminister von der SPD hat schon am Montag nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul erkannt, wie sich politische Verantwortung in heiße Luft verwandeln lässt, nämlich durch das kleine Zauberwort, das auch Seehofers Staatssekretär wenig später benutzen sollte: „alle“.

„Wir alle – die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, verkündete Maas. Und verpasste damit einen der wenigen Momente, in denen der Gebrauch des Wörtchens „ich“ in der Politik sinnvoll gewesen wäre. Nicht „ich“, also Maas, habe versagt, sondern „wir alle“.

So geht politische Verantwortung heute. Linken-Altstar Gregor Gysi hat vorgeschlagen, die ganze Regierung solle zurücktreten und bis nach der Wahl nur geschäftsführend amtieren. Man könnte meinen, das sei fast eine Selbstverständlichkeit. In der politischen Wirklichkeit ist es leider eine Illusion.

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