Der Saal im Dachgeschoss des feinen St.-Regis-Hotels auf der 55. Straße ist festlich geschmückt. Die Gäste nehmen die ersten Drinks, mit Blick auf den Abendstau von Manhattan. Plaudernd schlendern sie an Kostbarkeiten vorbei, die gleich unter den Hammer kommen werden, darunter eine Erstausgabe von We the Living – 80 Jahre alt –, ein Originalmanuskript der Meisterin, eine von ihr handgemalte Karte, eine Brosche. Das Ayn Rand Institute, das ARI, lädt zum alljährlichen Atlas Shrugged Revolution Dinner.
„Ayn … was?“ kommt hierzulande oft als erste Reaktion. Die Schriftstellerin Ayn Rand (sprich: Ei-en Ränd) ist in Old Europe wenig bekannt, in den USA hingegen ein Star, auch 34 Jahre nach ihrem Tod. Rands Roman Atlas Shrugged (Der Streik) von 1957 wurde fast neun Millionen Mal verkauft. Edward Snowden soll früher ein Fan gewesen sein. Zu Rands Jüngern zählten einst auch die Beatniks um Jack Kerouac, wie später auch manche Hippies – weil Rand den absoluten, den totalen, den radikalst möglichen Individualismus verfocht. Rand, glühende Antikommunistin, schrieb vehement gegen jede Form des Kollektivismus an, und damit auch gegen die kleinbürgerliche Spießigkeit, die kollektive mediocracy der US-Gesellschaft ihrer Zeit.
Heute zählen vor allem Republikaner und Libertäre zu ihren Verehrern, Fondsmanager, Bankiers und Silicon-Valley-Moguln. Apple-Gründer Steve Jobs nannte Rand einmal seine „Richtschnur“. Donald Trump schätzt nach eigenem Bekunden vor allem Rands zweiten Erfolg, The Fountainhead (Der ewige Quell), eine 735-Seiten-Ode an einen Wolkenkratzer-Erbauer (und Vergewaltiger). Allan Greenspan, über 18 Jahre Chef der US-Notenbank, gehörte in jungen Jahren zum engsten Kreis um die Dichterin, der sich – hochironisch – „das Kollektiv“ nannte. Greenspan blieb Rand treu bis zu ihrem Tod 1982. Neben ihrem Sarg stand damals ein zwei Meter hohes Blumenarrangement, gebunden in Form des Dollarzeichens.
Als Alissa Sinowjewna Rosenbaum wurde sie 1905 in Sankt Petersburg geboren, als erstes Kind einer jüdischen Mittelklassefamilie. Ihr Vater, ein Apotheker, wurde nach der Oktoberrevolution 1917 von den Bolschewiki enteignet. Die Tochter studierte Philosophie und schrieb sich 1924 am Staatlichen Institut der Filmkünste ein. Einen Kontakt zu Verwandten in Chicago nutzte sie Anfang 1926 zur Ausreise aus der Sowjetunion – auf Nimmerwiedersehen.
Yaron Brook, der Exekutivdirektor des ARI, taucht, ein Glas Wein in der Hand, aus der Menge im St-Regis-Hotel auf und erzählt mir von seiner anstehenden Europatournee. Der Mann hält Vorträge. In Bukarest wird „Kapitalismus ohne Schuld“ sein Thema sein, in Athen die „Revolution des freien Markts“, in Moskau „Businesslehren aus Atlas Shrugged“, in Tiflis „Objektivistische Ethik“, in Warschau „Das Böse im Sozialismus“ und „Steuerkriege und Gleichheit“ in London. „In der Ukraine“, sagt er lächelnd, „bin ich ein Star.“
Gleich ist unfair
Brook ist im Rand-Reich so etwas wie der Papst – ihr Statthalter auf Erden. Wie so viele Hardliner ist auch er ein Konvertit. „Definitiv!“, sagt Brook und erzählt von seiner Jugend im Israel der 60er und 70er Jahre, wo er als „ergebener Sozialist“ aufwuchs – „ein echter, kein Sozialdemokrat!“ Dort galt, dass die Gemeinschaft immer zuerst kommt. „Es war dieser Kollektivismus, der mit dem Stamm verknüpft ist: Die Menschen sterben für dich, und du stirbst für sie. Es war eine große, nicht sehr glückliche Familie.“ Bis ein Freund ihm Atlas Shrugged schenkte. Er habe „gekämpft mit diesem Buch“, habe es „an die Wand geworfen“. Als er durch war, war er bekehrt.
Einige Tage später gehen wir zusammen ins Kino, in eine Dokumentation über die Geschichte der Geldwirtschaft. Die Botschaft des Films: An der Finanzkrise tragen die Bankiers keine Schuld. Nach der Vorführung sitzen Brook, ein Stanford-Professor, der Autor des Films und ein Ex-Chef der Wells-Fargo-Bank vor der Leinwand und erklären den Zuschauern, dass die Bankenkrise durch zu viel Staat und Regulierung entstanden und die Welt nur zu retten sei, wenn man dem Kapitalismus endlich freien Lauf ließe. Dies war das Credo von Ayn Rand: Kapitalismus ist gut, Eigennutz die einzig verlässliche Richtschnur menschlichen Handelns. Oder: Gier ist geil.
Ihren Künstlernamen legte sie sich mit 21 zu. „Ayn“ hatte sie aus dem Finnischen aufgeschnappt, „Rand“ las sie angeblich von ihrer Remington-Rand-Reiseschreibmaschine ab. In Hollywood traf sie ihren späteren Ehemann, den Künstler Frank O’Connor. Während der Großen Depression jobbte sie auch mal als Garderobenfrau – und schrieb unablässig. 1936 erschien ihr erster Roman: We the Living (Vom Leben unbesiegt), eine Abrechnung mit der Sowjetunion.
Gerne freifen ihre Romane die US-amerikanische Grunderzählung auf, aus der so viele Western, Comics und Hollywood-Epen schöpfen: die Story vom wagemutigen Individuum, das im Ringen mit bösen Mächten die Familie/Stadt/Nation/Welt rettet. „Sie hat das Land in einem fundamentalen Sinn besser verstanden als die Amerikaner selbst“, meint Ayn-Rand-Papst Brook. „Rand projizierte ein Amerika auf sie zurück, von dem sie glauben wollten, dass es das wahre Amerika ist.“ Auch er spricht gern vom Genie der Erfinder und vom Geschick der Verkäufer. „Und keiner“, schwärmt Brook, „ist neidisch.“ Der Reiche sei vielmehr Vorbild, Messlatte, seine Kritiker „Ungleichheitsalarmisten“ – krank vor Neid und Hass. Steuerflucht, findet Brook. Seine neueste Kampfschrift ist auch auf Deutsch erschienen: Gleich ist unfair.
Ayn Rand schrieb die Nächte durch, rauchte wie ein Schlot und sah sich als Prophetin – als Erbin des Aristoteles, dessen Gedankengerüst objektiv begründet sei. Weshalb das Rand’sche Ideenkonstrukt „Objektivismus“ getauft wurde. Sein Kern ist ein alter Witz: Wenn jeder an sich selbst denke, sei damit doch an alle gedacht. Ihre Verachtung galt den Nichthelden. Angestellte, Beamte, auch Hilfsbedürftige waren für sie second-handers (Zweitklassige), Angsthasen, Schmarotzer. „Altruismus“, sprach Rand bei ihrem letzten Vortrag 1981, „ist ein monströser Gedanke.“
Hört man Rand genauer zu, gesellt sich zu Hochmut und Feuereifer ein Beiklang von Trotz und Trauma. Ihre TV-Auftritte (Juwelen des Schwarzweißfernsehens, die sich online finden) zeigen eine resolute Frau mit funkelnden Augen und herbem russischen Akzent, barsch, keinen Widerspruch ertragend. Und doch war da ein Bruch, ein Schmerz. Sie pfiff auf Konventionen, behauptete sich scharfsinnig. Und blieb oft seltsam widersprüchlich. Etwa in der Frauenfrage. „Die Essenz der Weiblichkeit ist Heldenverehrung – das Bedürfnis, zu Männern aufzuschauen“, verkündete Rand 1968. Ihre Texte huldigen einem Frauentyp, dem sie exakt nicht entsprach: blond, langbeinig, unterkühlt. Ihre Biografin Anne Heller war fasziniert von der Angst hinter all dem Mut: „Alle Freunde berichteten davon, dass sie Türen zweimal abschloss, dicke Gummihandschuhe beim Abwasch trug, um nicht von Erregern infiziert zu werden.“ Rands Weltsicht sei „eine Abwehr ihrer Angst vor dem Chaos“.
Man hasst sich
Eine andere, hochumstrittene Rand-Biografie brachte Barbara Branden heraus: The Passion of Ayn Rand. 1950 war die Autorin mit ihrem Freund und späteren Ehemann Nathaniel in den intimsten Kreis der Rand-Bewunderer aufgerückt, den Kern des „Kollektivs“. Das Paar betrieb das Nathaniel Branden Institute, den ersten Missionsapparat für Rands objektivistische Lehre. Zugleich fungierte Nathaniel als Liebhaber der Chefin. Als diese 1968 erfuhr, dass er auch noch eine jüngere Geliebte hatte, ohrfeigte sie ihn und zerschlug das Institut. Das erste große Schisma der Rand-Gemeinde. Bis heute konkurriert die Atlas Society in Washington, D.C., mit dem viel größeren Apparat des in Kalifornien ansässigen ARI.
ARI-Direktor Brooks erklärt, es gebe bei Objektivisten „nicht mehr Kämpfe als bei den Marxisten oder den Neokonservativen“. Man sei eben leidenschaftlich – „hasst sich wie die Pest, kämpft, spaltet sich. Das ist die Natur des intellektuellen Strebens“. David Kelley, der Gründer der Atlas Society, erzählt lieber vom Netzwerk marktliberaler Organisationen in den USA: „Viele der Anführer kommen von Ayn Rand.“ Think Tanks wie die Reason Foundation, das Mercatus Center, das Manhattan Institute, das Adam Smith, das American Enterprise, das Cato Institute lebten oft von Zuwendungen superreicher Rand-Verehrer.
Rand stand meist an der Seite der Republikaner. Wenn die ihr nicht – wie etwa Ronald Reagan – zu lasch waren. „Er repräsentiert keinen echten Kapitalismus“, urteilte sie einmal. Bei Themen wie Abtreibung oder Homosexualität aber war die Atheistin klar liberal und deshalb Evangelikalen und anderen strenggläubigen Rechten ein Graus. Es war die Tea Party, die Rand zuletzt groß wiederentdeckte. Auf deren Demos fragten Transparente und T-Shirts nach dem Heldenretter aus Rands Roman Atlas Shrugged: „Wo ist John Galt?“
Ein inneramerikanischer Glaubenskrieg ist um Ayn Rand entbrannt. Ein Kampf um die rechte Deutung der Welt, zur Ehrenrettung des Kapitalismus. Die Ressourcen für diesen Kampf sind beträchtlich. Aus dem Hauptquartier des ARI in Irvine, südlich von Los Angeles, werden Aufsatzwettbewerbe, Podcasts, Kurse, Konferenzen und Vorträge organisiert. Bislang hat man nach eigenen Angaben über 3,2 Millionen Rand-Romane an über 60.000 Lehrer in den USA und Kanada gespendet. „Jedes Jahr“, jubelt die ARI-Website, „erleben über 500.000 Schüler und Studenten ihre inspirierenden Helden und anregenden Ideen.“
Das Ideal, sagt Brook, sei der minimale Staat, reduziert auf „Polizei, Militär und ein Justizsystem“, ohne jeden Einfluss auf Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung. Nicht mal auf den Straßenbau? Er schüttelt sich. „Ach, immer diese alberne Frage. Nein. Die Regierung sollte mit dem Bau von Straßen nichts zu schaffen haben.“ Weil die letztlich auch wieder nur ein Produkt seien. Doch bis das alle endlich begriffen hätten, würden wohl noch 50, vielleicht 100 Jahre vergehen. „Es gibt keinen wahren Kapitalismus auf der Welt“, seufzt Brook. „Wir sind alle Sozialdemokraten – Donald Trump inklusive.“
Manchmal funktioniert der Einfluss der Rand’schen „Objektivismus“-Gemeinde auch ganz direkt: Der Bankier John Allison etwa, lange der Kopf des Finanzdienstleisters BB&T, spendete Millionen an Dutzende Universitäten – mit der Auflage, dass dort ein „positives Interesse für den Objektivismus“ gelehrt werde. Auch für die Gala in New York hat Allison Geld gegeben. Das Dinner geht schließlich mit einer Kollektion von Pralinen zu Ende. Direktor Brook hat den Gästen vom rastlosen Wirken des ARI berichtet: „Um die Werte zu verändern, die diese Kinder haben – diese Schneeflockengeneration, die wir zu beeinflussen suchen.“ Nun sammelt eine Auktionatorin das Geld ein, Spenden von an die 100.000 Dollar, die weitere Missionen finanzieren sollen. Sie jauchzt „Yes!“, wenn ein Bieterschildchen hochgeht, und brüllt: „Sie glauben doch an die Sache?“ Der Saal klatscht, und die Geldsammlerin antwortet: „You guys rock!“
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