Die Alleen öffnen sich

Chile Die Abstimmung über eine Verfassunggebende Versammlung hat zu einem unerwartete Triumph für Vertreter der Linken geführt
So sehen Siegerinnen aus: Die Schulbusfahrerin Giovanna Grandon, die verkleidet als Pokemonfigur auf Demonstrationen ging, sitzt jetzt im Verfassungskonvent
So sehen Siegerinnen aus: Die Schulbusfahrerin Giovanna Grandon, die verkleidet als Pokemonfigur auf Demonstrationen ging, sitzt jetzt im Verfassungskonvent

Foto: Martin Berenetti/AFP via Getty Images

Erstarrte Gesichter, den Kopf geneigt: Chilenische Regierungsvertreter zeigten verbitterte Mienen, als am Wochenende die ersten Wahlergebnisse feststanden. Wie sich zeigte, hatten die Chilenen bei der Abstimmung über eine Verfassunggebende Versammlung der oligarchischen Demokratie und dem neoliberalen Wirtschaftssystem einen überraschend heftigen Todesstoß versetzt. Der Weg ist frei für mehr Gerechtigkeit, soziale Grundrechte und Umweltschutz. Der Sieg der Linken war in seiner Deutlichkeit so nicht erwartet worden.

Ohne Budget

Es wirkte wie ein abgekartetes Spiel, als am 15. November 2019 der Weg zu einer neuen Verfassung präsentiert wurde. Rechte Parteien und der neoliberalen Mitte schien das ein Ausweg zu sein, um die heftigste Protestwelle seit dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 zu brechen und Präsident Sebastián Piñera das Amt zu sichern: Man baute eine obligatorische Zweidrittelmehrheit ein, um die Verfassungsartikel zu bestätigen, und gab so den Rechtsparteien quasi ein Vetorecht.

Niemand glaubte, dass die Rechten die Sperrminorität verfehlen würden. Trotzdem arbeiteten unzählige Aktivisten unermüdlich für einen Platz im Verfassungskonvent. Ohne Budget und mit ungerecht verteilten Sendezeiten im Fernsehen schien ihr Vorhaben aussichtslos. Man erwog gar, den Verfassungskonvent mit Protestaktionen zu umringen, damit wenigstens ein paar soziale Grundrechte in einer neuen Magna Charta verankert werden.

Doch das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Die Rechte verfehlte die nötigen 52 Sitze für die Sperrminorität und parteiunabhängige Kandidaten, vor allem Kandidatinnen, eroberten mit 66 Sitzen mehr als ein Drittel des Mandate des Verfassungskonvents. Unter ihnen befinden sich etwa eine Schulbusfahrerin, die verkleidet als Pokemonfigur auf Demonstrationen ging, oder Machi Francisca Linconao, eine Mapuche, die über Jahre vom Staat politisch verfolgt wurde.

Die Bevölkerung entschied sich bewusst gegen teure Kampagnen und immer wiederkehrende Slogans. Der Verfassungskonvent gibt jenen eine Stimme, die niemals glaubten, gegen alteingesessene Parteien anzukommen. Das Ergebnis ist ein Vertrauensbeweis für ein neues, wirklich demokratisches Chile.

Prophezeiung 1973

Damit liegt auf den Schultern der Linken und unabhängigen Abgeordneten eine enorme Verantwortung. Von ihnen hängt es ab, ob in den kommenden Präsidentschaftswahlen im November 2021 der Erfolgskurs der linken Kräfte weiter geht und der 1973 gestürzte sozialistische Präsident Salvador Allende Recht hatte, der in seiner letzten öffentlichen Rede aus dem von den Putschisten zerbombten Präsidentenpalast prophezeite: „Früher oder später werden sich erneut die Allen öffnen, auf denen der würdige Mensch dem Aufbau einer besseren Gesellschaft entgegengeht.“

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