Die alte Dame

TYPEN Ihre neunzig Lebensjahre sind der alten Dame nicht anzusehen. Sicher, sie stützt sich beim Gehen auf einen Stock und ihre Hände zittern. Sicher, sie ...

Ihre neunzig Lebensjahre sind der alten Dame nicht anzusehen. Sicher, sie stützt sich beim Gehen auf einen Stock und ihre Hände zittern. Sicher, sie vergisst manchmal Namen und Ereignisse oder ihren Schirm in der Gaststätte. Aber sie meistert ihren Alltag in der eigenen Wohnung. Und heute Mittag sitzt sie kerzengerade in einer griechischen Taverne. In großer Runde.

Die Tischnachbarin auf der linken Seite ist um einiges jünger. Sie kennt sie, seit sie ein kleines Mädchen war, mehr als vierzig Jahre. Sie erinnert sich an steife Besuche in einer Wohnung, die keine Kinder gewöhnt war, und an einen Papagei im Vogelbauer, der seinen Vor- und Nachnamen sagen konnte. Die alte Dame war ihr schon damals ein bisschen schrullig vorgekommen.

Sie lächelt ihr freundlich zu und widmet sich Tsatsiki, Oliven und Feta, weniger den Gesprächen ringsum. Bis die zittrige Stimme der alten Frau die Sonntagsträge durchschneidet: "Damals auf dem Ku´damm, 1935, als die SA herumgrölte: Juda Verrecke!, da wollte ich nur noch weg. Egal wohin. Das habe ich auch gesagt. Ein Kellner zog mich zur Seite und fragte, ob ich denn auch nach Istanbul gehen würde? Ein türkisches Ehepaar suche ein Hausmädchen. So bin ich als junge Frau an den Bosporus gekommen."

Sie hat später bei einer deutschen Firma gearbeitet und dort ihren Mann kennen gelernt. Ihre türkische Kollegin hatte es aus dem Kaffeesatz gelesen: Dieser Mann würde ihr Leben retten und sie heiraten. Und tatsächlich hat sein Einsatz ihre drohende Abschiebung nach Nazideutschland verhindern helfen, die Koffer waren schon gepackt, tatsächlich haben sie geheiratet.

Die alte Dame nimmt die leere Mokkatasse ihrer Tischnachbarin und kippt sie auf den Unterteller. Daraus liest sie sibyllinisch wie alle Prophetinnen: Kamele, Tore und Licht kommen vor, ein Pferd, viele Kinder ("das sind Freunde, Kollegen") und "ganz zum Schluss ein bisschen Dunkel, aber das ist fast immer so". Aus dem Kaffeesatz hat sie noch nie gelesen, in all den Jahren nicht.

Dann kommt die Frage nach dem Abschlussouzo, die der Kellner in die Runde und ein wenig zweifelnd auch an die alte Dame richtet. "Selbstverständlich trink ich einen Ouzo", sagt sie, "zu Hause trinke ich immer Schnaps!" Und führt das Glas mit zitternden Fingern zum Mund.

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