Die alte Tante Hochkultur

Im Gespräch Ilija Trojanow über den nicht enden wollenden Kulturkampf, den rebellischen Wandel der Welt und den Mysthizismus, der Günter Grass in der Fremde befällt

FREITAG: Herr Trojanow, bricht mit der Präsidentschaft von Barack Obama nun ein postrassistisches, multikulturelles Zeitalter an, wie überall zu lesen ist?
ILIJA TROJANOW: Das lässt sich noch längst nicht sagen. So schnell ändert sich die Mentalität eines Volkes nicht. Für Obama stimmte ja nur ein Teil der Bevölkerung, noch nicht einmal die absolute Mehrheit der möglichen Wähler. Und man sollte nicht vergessen, dass er nicht nur ein schwarzer, sondern ebenso ein weißer Politiker ist. Schließlich ist er bei seiner weißen Großmutter aufgewachsen und wurde von seiner weißen Mutter erzogen. Wenn wir nicht so farbenfixiert wären, müssten wir sagen, er ist eher ein weißer als ein schwarzer Politiker.

Er repräsentiert einen ganz anderen Politikertypus als George W. Bush - kulturell, soziologisch, moralisch. Und im Wahlkampf hat Obama eine Politik versprochen, die von Werten wie Universalität und Solidarität geleitet sein soll. Glauben Sie, dass er das jetzt wird umsetzen können?
Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass er es tun wird. Ein amerikanischer Präsident ist kein Zar, sondern eine politische Figur. Er ist in ein festes Elitensystem eingebunden, starken Wirtschaftsinteressen untergeordnet und einem mächtigen Pentagon ausgesetzt. Wahlversprechen und rhetorische Feuerwerke sollte man nicht für bare Münze nehmen.

Erledigt sich denn wenigstens der "Kampf der Kulturen", den Bush mit dem Schlagwort von der "Achse des Bösen" beschworen hat?
Wie kommen Sie denn auf die Idee, dass Feindbilder nicht mehr gepflegt und aufgebaut werden, wenn sich ein Präsident in den USA verabschiedet? Vielleicht zeigt sich in einem Jahr, ob es Obama gelingt, ein neues kulturelles Selbstverständnis in seinem Land zu prägen. Alles andere wäre jetzt Hoffnung, Projektion und Spekulation.

Ihr Buch "Kampfabsage" ist eine Replik auf Huntingtons These vom "Clash of Civilizations". Zusammen mit Ihrem Ko-Autoren, dem indischen Kulturkritiker Ranjit Hoskoté, schreiben Sie, dass sich Kulturen nicht bekämpfen, sondern zusammen fließen. Das ist doch eine gute Nachricht, oder?
Man kann Identität jedenfalls nicht durch Abgrenzung bestimmen, wie es Huntington in seiner imperialen Ideologieschrift tut. Seine absurden Behauptungen beschäftigen uns eher am Rande. Wir stellen die hybriden kulturellen Energien dar, die uns alle und unsere Welt prägen. Was etwa als typisch europäisch gilt, speist sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Einige davon liegen im früheren muslimischen al-Andalus auf der iberischen Halbinsel, andere im arabisierten normannischen Königreich Sizilien.

Was bedeutet das für die heutige Lebenswelt?
Wer in Deutschland etwa unter Aussiedlern aufwächst, dem werden andere Geschichten erzählt und Traditionen beigebracht, als einem Kind, das in einen schwäbischen Haushalt hineingeboren wird - ganz zu schweigen von sprachlichen und religiösen Erfahrungen. Zudem steht uns Europäern heute die Welt offen: Wir können uns intensiv mit Yoga und Buddhismus beschäftigen, afrikanische Musik hören oder eine Vorliebe für Filme aus den USA ausleben. So sucht und bildet jeder von uns selbst eine persönliche und sehr intime Identität.

Die Kultur wird in diesem Prozess stetig umgeschichtet, von Süd nach Nord, von unten nach oben.
Genau. Ein schönes Beispiel für Hybridität ist die Geschichte des HipHop, dessen Wurzeln in Jamaika liegen. Später kultivierten ihn die Jugendlichen in den großen US-amerikanischen Ghettos und irgendwann kam er in Form einer Schallplatte nach Kreuzberg oder in den zehnten Bezirk nach Wien, wo man ihn adaptiert hat und weiterentwickelt.

So gesehen entwickelt sich Kultur- und damit unser Weltverständnis auf sehr demokratische Weise.
Und auf sehr rebellische, was beispielsweise Adorno seinerzeit nicht erkannt hat. Der übersah schon, dass es sich beim Jazz nicht um eine Minderheitenmusik handelte, die bald wieder verschwindet, sondern um die Musik der Sklaven, die bereits zu einem Teil der Hochkultur wurde. Mittlerweile haben sich ihre Sprechgesänge und ihre Poesie weltweit durchgesetzt. Überspitzt gesagt: Die heutige Musik ist ohne die afroamerikanischen Wurzeln nicht denkbar.

Kultur war, neben dem Sport, die Sphäre, in der gesellschaftlicher Aufstieg einst Unterdrückter zuerst möglich war. Die Politik kam dafür lange nicht in Frage.
Aber das ist ja das Schöne: Die Vermischung von Kulturen lässt sich nicht aufhalten. Selbst wenn man sie unterdrücken will. Die Kultur ist so lebendig, dass sie alle etablierten Schranken durchbricht - und nicht selten hat die etablierte Hochkultur das Nachsehen. Sie ist ohnehin nur eine alte Tante in plüschiger Umgebung, die stets mit einer gewissen Saturiertheit feststellt, dass sich die Welt jenseits ihrer vollgestellten Wohnzimmer entwickelt. Sie erkennt nicht, dass sich das kulturelle Leben oft in anderen Räumen und Welten entwickelt, als sie es vermutet.

Das Buch "Kampfabsage" widmen Sie denen, die "das Dazwischen bewohnen". Wen meinen Sie damit?
Menschen, die nicht Untertanen eines unverrückbaren Dogmas oder einer vermeintlichen Identität sind. Kosmopoliten bilden dabei aber nur eine der vielen Gruppen unter diesen Bewohnern des Dazwischen.

Würden Sie den letztjährigen Literaturnobelpreisträger J.-M. G. Le Clézio dazu? Manchem Kritiker gilt er weniger als Weltbürger, denn als ein Wanderer zwischen den Welten.
Von Le Clézio habe ich nur das Buch Onitsha gelesen. Afrika wird darin allzu stereotyp dargestellt. Die Körper der Afrikaner "glänzen", schreibt er, sie bewegen sich "unverdorben" und "mit der Gewandtheit eines Tieres", ferner reden sie "in jener sanften Sprache, die wie Musik klingt". Er mystifiziert sehr stark. So bleibt Afrika ein ewiges Geheimnis.

Wie kommt es, dass auch kritische Autoren aus Europa scheitern, wenn sie fremde Länder verstehen wollen? Kürzlich erzählten Sie, dass weder Grass noch Pasolini die Kulturgeschichte Indiens begriffen haben. Warum nicht? Waren sie nicht vor Ort?
Doch, doch. Nur sie können sich bestimmter, letztlich imperialer Perspektiven einfach nicht entledigen. Dabei haben sie durchaus anachronistische Blickweisen dekonstruiert, wenn sie über die Sozialgeschichte der Ersten Welt schreiben. Doch sobald sie sich mit der Kultur Afrikas oder eben Indiens befassen, neigen sie zu Überheblichkeit, verallgemeinern und nehmen Entscheidendes nicht ernst genug oder nicht in dessen Subtilität wahr. Sie benutzen Klischees, die sie sich bei der Beschreibung eines europäischen Nachbarlandes nicht verzeihen würden.

In Ihrem Buch "Wanderer auf vier Kontinenten" schildern Sie Ihren Helden Sir Richard Francis Burton als exzentrischen Lebemann und zugleich als Produkt der viktorianischen Epoche. Da geht es um die Spannung zwischen Kulturgebundenheit und absolutem Freiheitswillen.
Auch, aber nicht nur. Es ist schon sehr interessant, wie jemand, der gegen seine Zeit rebelliert, trotzdem ein Kind seiner Zeit bleibt. Das äußert sich bei Burton in aller Intensität: Teilweise provoziert er absichtlich und sehr scharf seine Altvorderen und doch folgt er ihnen oft fast unabsichtlich auf manchem Schritt und Tritt. Er ist ein zerrissener Mensch, der sich nur aus sehr kritischer Distanz erfassen lässt.

Burton schreibt in seinen Notizen: "Ich bin schon drei Tage an diesem Ort und wirklich enttäuscht. Kein Mann getötet, kein Kerl gefoltert. Das im Blut treibende Kanu ist der Mythos aller Mythen." Das könnte Huntington gefallen.
Das ist Burtons Art zu provozieren. In dieser Passage macht er sich allerdings lustig über die Abenteuergier seinesgleichen. Und er meint übrigens nur, dass er in jenen drei Tagen nicht gesehen hat, wie jemand getötet oder gefoltert wurde. Er will das deswegen noch längst nicht selber tun.

Noch etwas anderes: Welches Buch lesen Sie gerade?
Die Flüsterer von Orlando Figes über das Leben in Stalins Russland. Ein wichtiges Buch über den grauenvollen Alltag in einem totalitären Staat. Leider bei uns noch viel zu wenig bekannt.

Das Gespräch führte Dirk F. Liesemer

Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, studierte von 1985 bis 1989 Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. 1999 zog er nach Mumbai, seit 2003 lebt er in Kapstadt. Zuletzt erschien von ihm: Der entfesselte Globus. Reportagen bei Hanser.

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