Die andere Wirklichkeit

Bühne Christoph Marthaler inszeniert im Theater Basel in kleiner Runde: "King Size. Eine enharmonische Verwechslung" heißt der Liederabend
Ausgabe 11/2013

Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass Fernsehen in seinen besten Erscheinungsformen, etwa in der Serie The Wire, sogar den Dokumentarfilm an Realismus übertrifft. Das Theater kann nur scheitern, wenn es in dieser Hinsicht konkurrieren will. Es hat, wie die Malerei gegen die Fotografie, nur eine Chance, wenn es sich für Künstlichkeit entscheidet.

Keiner hat das so genau begriffen wie Christoph Marthaler. Nicht die Psychologie ist seine Inspirationsquelle, nicht die Soziologie, sondern die Musik. Seine Figuren ahmen keine Wirklichkeit nach, sie schaffen sich ihre eigene: aus Bewegung, Geste, Mimik. Was sie im Raum und in der Zeit vollziehen, braucht die Bühne, weil es so auf der Straße nicht zu finden ist. Marthalers Kunst verdoppelt nicht, sie erfindet. Und das Vergnügen darüber ist ästhetischer Natur. Manche mögen derlei für überflüssig halten. Worin aber bestünde das Spezifische der Künste, wenn sie, schlechter als Wissenschaft oder Journalismus, nur Einsichten vermittelten, die diese mit besseren Gründen anstreben?

Christoph Marthalers neues Stück heißt King Size und wird auf der Kleinen Bühne des Basler Theaters aufgeführt. Zu Beginn singen Bendix Dethleffsen, Tora Augestad und Michael von der Heide im Kanon „Wachet auf, es krähte der Hahn“, ersterer, zugleich der Pianist des Abends, auf der Bühne, die anderen zwei dahinter. Es wird noch mancherlei gesungen, Songs und Lieder von den Kinks und von Schumann, von Wagner und von den Jackson Five, von Beethoven und von der Münchner Freiheit, von Mozart und von dem französischen Schlagersänger Michel Polnareff.

Und es wird auf ungewohnte Art gesungen. Zum Beispiel im Doppelbett, während eine Frau, Nikola Weisse als Alma Lieder-Abend, geb. Schmürz mit einer auffälligen Handtasche, aus der sie später mit einem Rückenkratzer Spaghetti isst, durchs Zimmer geht. Und Tora Augestad liegt auch mal unter dem Bett, während sie John Dowland zum Besten gibt. Die typischen Posen von Liedersängern oder Chanson-Interpreten kommen hier nur als Parodie vor. Oder sie bleiben eben aus. Weil sie unterm Bett nicht taugen.

Christoph Marthaler setzt stets aufs Neue dem sprachorientierten Drama ein musikalisch geprägtes Bildertheater gegenüber. Damit ist weniger die Verwendung von Musik gemeint, die ja im Theateralltag oft gedanken- und funktionslos eingesetzt wird, als die Übertragung musikalischer Strukturen in die Kunst des Sprechtheaters. Duri Bischoff hat dafür ein Schlafzimmer gebaut, mit geblümten Tapeten und türkisfarbenen Schränken, in die ein Kühlschrank eingebaut ist. Ist das Geblödel? Wohl auch. Aber abgesehen davon, dass nichts gegen intelligentes Geblödel einzuwenden ist: In der Verzerrung ist das Übliche durchaus identifizierbar. Und sei es dadurch, dass es ausbleibt.

King Size ist, nach der aufwändigen Händel-Hommage Sale an der Zürcher Oper, eine kleine Produktion geworden. Marthaler geht mit großen Bühnen und Ensembles ebenso souverän um wie mit intimen Konstellationen, deren Vorbild eher im dadaistischen Cabaret Voltaire liegt als im bürgerlichen Opernbetrieb. Und er demonstriert, wie wenig nötig ist, um einen unterhaltsamen und, durch die Musik, ergreifenden Theaterabend hervorzuzaubern: Talent und Einfälle. Das Basler Publikum war begeistert.

King Size. Eine enharmonische Verwechslung Christoph Marthaler Theater Basel, nächste Termine theater-basel.ch

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