„Angstblüte“ von Martin Walser: Die Angst des Geldvermehrers

Dauerlauf Martin Walsers Roman „Angstblüte“ ist ein Aktienmarathon

Ich lese das Buch jeden Tag, zwei Stunden lang, in der S-Bahn, auf der Fahrt nach Berlin-Schöneweide, jenem verrotteten Industriebezirk mit 23 Prozent Arbeitslosigkeit, wo ich mich den Mühen des Broterwerbs unterziehen muss, einer Tätigkeit, die die Romanfigur von Martin Walsers neuem Roman Angstblüte, Karl von Kahn, als bizarres Notverhalten oder so ähnlich abtun würde, denn Karl ist Anlageberater in München und nimmt mich, die ich noch nie einen solchen benötigt habe, mit auf seinen Marathon, den er, das 70.Lebensjahr bereits überschritten, mit der schnaufenden Triebkraft eines ehrgeizigen Durchalters bestreitet.

Schon in den ersten Metern finde ich mich in der glitzernd klirrenden Welt des schwerreichen Großbürgers, während um mich herum Deutschland seine patriotische Fähnchenflut steigen lässt, aber ich lese, laufe und leide gespannt mit, denn Karl erfährt von Gundi, der Frau seines besten Freundes, dass es denselben niedergestreckt hat, er im Krankenhaus liegt, gelähmt, während Karl, den der kalte Schrecken erwischt, eine Einladung annimmt von Gundi, die bulgarische Zigaretten raucht, Ethno-Psychoanalyse studiert hat, von Stalin träumt, der ihr die Fußnägel schneidet und ansonsten eine Fernsehsendung mit dem Titel Zu Gast bei Gundi leitet, und bei Gundi betritt Karl ein Schönheitsimperium, dem Schloss Neuschwanstein nachempfunden, mit Sängersaal und Galerien für die Kunstfraktion, und ich renne weiter mit Karl und Gundi und Leuten die Namen tragen wie Amadeus Stengl, Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel oder Leonie von Beulwitzen, und nach jedem Kilometer des Buches rauschen Marktanalysen, Aktienberichte und Spekulationsprognosen die Karl, der Geldvermehrer, beeindruckend wie Symphonien von sich gibt, und nur daran denkt und träumt, aber da stolpert er über die vor ihm aufkeimende fallenstellende Angst, er unterschreibt, dem letzten Wunsch des Freundes folgend, den Verkauf einer Firma, und weiter geht´s, während meine S-Bahn von einer Gruppe zerschlissener Männer mit Akkordeon und Tröte gestürmt wird, die brüllen GutenMorgenDeutschland!, aber Karl von Kahn reißt mich weiter mit in die endlose und doch aufs Endliche hinauslaufende Strecke seines Daseins, das noch einmal eine Wendung erfährt, nämlich als Joni Jette, Tochter eines Fahrdienstleiters aus Ennepetal, die es zur Filmschauspielerin gebracht hat, dem alten Herren dreist an die Hosen geht, ihn mit dümmlich-geiler Jugendlichkeit benebelt und ihm schließlich für einen Othello-Film Geld abzockt, aber Karl spürt außer seinem aufblühenden Geschlechtstrieb nun auch die Angst vor Betrug, Selbsttäuschung, dem Stigma der Erfolglosigkeit, des nahenden Endes, er kollabiert, rafft sich wieder auf, rennt um sein Leben, das nur noch von der Angstblüte bestimmt ist (einem Phänomen aus der Botanik: wenn Bäume sterben, schlagen sie im letzten Herbst noch einmal aus), während Traumfrucht Joni mit anderen Kerlen herumhurt, und in Berlin-Schöneweide DDR-Fahnen die Häuser schmücken, und ich hänge mich auch die letzten Meter vorm Ziel an diese bedauernswerte Großfresse Karl und seine lächerlich-tragischen Mitmenschen, die mir im Walserschen Dauerlauf der Ironie die Gewissheit geben: Das bleibt für mich Literatur, Gott sei Dank, und man kann sie gut schmökern, denn Walser kennt sich in dieser Welt der Schönheitswerte und des Zinseszinskapitalismus aus, vielleicht nur in dieser, weil er nicht S-Bahn fahren muss, aber die Angst, die Angst vorm Endenmüssen, die Blüten treibt, die nimmt auch er mit ins Ziel.

Martin Walser: Angstblüte. Roman. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2006, 528 S., 22,90 EUR

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