Die Angst vor dem Trotz

Die Kosmopolitin Warum unsere Autorin nicht vor Terror, sondern etwas anderem Angst hat
Ausgabe 32/2016
Im Springbrunnen am Münchner Stachus baden gehen? Einfach so
Im Springbrunnen am Münchner Stachus baden gehen? Einfach so

Foto: Imagebroker/Imago

Ich habe Angst. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt, ich habe Angst davor, etwas zu verpassen, ich habe Angst im Flugzeug. Ich habe keine Angst vor dem Anderssein, aber davor, dass meine Kinder an ihrem Anderssein leiden könnten. Ich habe keine Angst vor Terror, aber ich habe Angst vor dem Menschen.

Als der Amokläufer in München im OEZ schoss und den ersten Angaben zufolge noch weitere Täter unterwegs waren, saß ich in den Kammerspielen, einem Münchner Theater, fest. Das Projekt, das ich mit leitete und das gerade auf der Bühne war, wurde abrupt abgebrochen, die Polizei bat alle Anwesenden, den Raum nicht zu verlassen, weil das den Saal umgebende Foyer verglast sei und somit eine Einladung für einen Schützen. Das sagten sie so, eine Einladung für einen Schützen, und bis zu diesem Moment hatte ich in den vorangegangenen Probetagen bei „verglast“ hauptsächlich „Hitze“ gedacht.

Diese Tage, in denen den Begriffen die Bedeutung entrissen wird und den Menschen ein Lebensgefühl, ein Glaube an das Fortwähren des eigenen Lebens. In dem Raum, in dem wir bleiben mussten, war es stickig, und in dem Raum war Angst. Jemand drehte ohne Vorwarnung die Lüftungsanlage an, die Ventilatoren hörten sich an wie Flugzeugturbinen, und ein Schrecken ging durch den Raum, ein Aufschrei, ein Zusammenzucken der Masse. Jemand von den Kammerspielen ergriff das Mikro, gab die Regeln der Polizei durch und machte sich besondere Mühe, hinzuzufügen: Es ist ein Terrorangriff. Das war, während die Polizei via Twitter inständig darum bat, weder den Begriff Terror noch weitere Gerüchte zu verbreiten. Ich hörte auf, die weinenden Menschen zu zählen. Ich weiß nicht, warum ich keine Angst hatte.

Zwei Tage nach dem Amoklauf war es heiß, stickig und blauhimmelig in München, meine Kinder und ich fuhren durch die Innenstadt, und sie baten mich darum, durch den Stachus-Springbrunnen rennen zu dürfen. Ich überlegte nicht lang: Wir hatten keine Ersatzklamotten dabei, ich trug ein weißes T-Shirt, und einen Parkplatz in der Münchner Innenstadt zu finden, ist eine große Herausforderung, auch wenn man nicht solch ein talentfreier Autofahrer ist wie ich. Genug Gründe also, um genau das zu tun: durch den Springbrunnen zu laufen. Wir zählten bis drei, im Springbrunnen glitzerten Regenbögen, der Kleinste schrie, weil er Wasser in den Augen nicht mag, alles an mir triefte, alles lachte, ich freute mich an diesem Pippi-Langstrumpf-Gefühl. Zwei Tage zuvor hatte es hier an dem Springbrunnen eine Massenpanik gegeben, weil jemand Gerüchte in die Welt gesetzt hatte, auch hier würde geschossen. Wir rannten durch das Wasser, feierten Sommer und Kindheit, und nichts davon war ein Trotz. Ich blickte nicht nach rechts, nicht nach links und fragte mich nicht, ob und wer und warum. Ich war nass von oben bis unten und wieder zurück. Im Laufe des Wochenendes hörte ich von vielen Veranstaltungen, sowohl privater als auch öffentlicher Art, die trotzdem stattfanden. Trotzdem.

Ich habe keine Angst vor Menschen, die am Stachus schießen oder sich selbst und andere in die Luft jagen. Ich habe Angst vor dem Trotz. Das Trotz hat eine einfache Ableitung, die nennt sich Um nicht. Um nicht in einem Trotz leben zu müssen, darf man zum Beispiel Menschen in Länder abschieben, in denen Krieg herrscht. Man darf pauschalisieren. Man darf im Stich lassen. Ich habe Angst vor dem Menschen. Und ich habe Angst vor dem Trotz.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin für den Freitag. Zuletzt erschien von ihr der Roman Null bis unendlich (Rowohlt 2015)

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