Die Angst vor den Tränen

Kommentar Mordanschlag in Moskau

Als Innenminister Boris Gryslow und Moskaus Bürgermeister Jurij Luschkow am Ort des Attentats eintrafen, fanden sie Worte des Lobes. Die Polizei habe gut gearbeitet. Die Schachidkas (Selbstmordattentäterinnen) seien daran gehindert worden, auf das Festivalgelände vorzudringen. Aber das war reine Beschwichtigung, denn der Kaukasus-Krieg hat seine schwarze Hand nun schon zum wiederholten Mal nach der Hauptstadt ausgestreckt. Doch das offizielle Moskau demonstriert Normalität. Keine Großveranstaltung wird abgesagt, gerade öffnet ein Bier-Festival seine Tore.

Am Tag des Attentates unterbricht auch kein einziger Fernsehkanal sein Unterhaltungsprogramm für Gedenk-Minuten, geschweige denn Live-Berichte. Dass mit Tschetschenien alles beim Alten ist, daran möchte man in Wahlkampfzeiten nicht erinnern - dass er seine Bürger faktisch nicht schützen kann, will der Staat nicht eingestehen. Die gleiche Verdrängungstaktik wie 2000, nach dem Untergang der Kursk. Auf die Frage des CNN-Moderators Larry King, was mit dem U-Boot passiert sei, antwortete der Kreml-Chef damals neckisch lächelnd: "Es ist gesunken".

Wladimir Wladimirowitsch Putin kommt einfach nicht aus seiner Haut. Auf einem Treffen mit Kabinettsmitgliedern erklärt er im Militär-Jargon, gegen tschetschenische Terroristen helfe keine "prophylaktische Arbeit", man müsse sie "aus ihren Höhlen herausstochern". Weil die Armee kaum Erfolge vorweisen kann, wird die Feinbeschreibung immer monströser. Die tschetschenischen Terroristen seien der "gefährlichste Teil" des internationalen Terrorismus. Warum ein zwanzigjähriges Mädchen zur Terroristin wird, ist kein Thema.

Der gemäßigte Teil der kaukasischen Separatisten dürfte sich mit einem weitreichenden Autonomie-Status abfinden. Aber der Kreml-Chef entwirft ein Angst-Szenario. Verhandlungen mit "den Terroristen" seien gleichbedeutend mit dem Zerfall Russlands, der weitaus mehr Opfer fordern werde. Da zählt es auch kaum, dass der Kreml eine Amnestie verkündet und einen Wahltermin ansetzt. Im tschetschenischen Alltag hat das alles wenig Bedeutung. Immer noch verschwinden Tschetschenen bei "Säuberungsaktionen". Und die Amnestie wird wie ihre Vorläufer wegen mangelnder Sicherheitsgarantien für Ausstiegswillige verpuffen. Bei den vorgesehenen Präsidentschaftswahlen möchte der Kreml den jetzigen Verwaltungschef der Kaukasusrepublik, Ahmed Kadyrow, durchbringen, der noch 1998 zum "Heiligen Krieg" rief und das bisher nicht zurückgenommen hat. Im Kreml ist er dennoch häufig zu Gast, nach Meinung vieler Tschetschenen eine Absurdität. Der als korrupt verschrieene Kadyrow sei um keinen Deut besser als Präsident Maschadow und die noch kämpfenden Feldkommandeure. Es wird immer offensichtlicher: Solange nicht alle Konfliktparteien am Verhandlungstisch sitzen, gibt es keinen Frieden.

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