Die Aprikose

Kehrseite I Im Steingarten des Klosters lag mitten auf einem Felsbrocken eine Aprikose. Sie stach mir sofort ins Auge, als ich mich an jenem Sommernachmittag auf ...

Im Steingarten des Klosters lag mitten auf einem Felsbrocken eine Aprikose. Sie stach mir sofort ins Auge, als ich mich an jenem Sommernachmittag auf die Terrasse des Klosters setzte, von der aus man den alten Garten überblicken konnte. Woher war sie gekommen? Ich schaute mich um. Im Garten, der allein aus Kies, Steinen und Felsbrocken entstanden war, gab es keinen Aprikosenbaum. Auch unter den Bäumen und Sträuchern hinter den Mauern, die den Garten auf zwei Seiten umgaben, war kein einziger Aprikosenbaum zu finden. Jemand musste die Frucht dort abgelegt haben. Aber wie? Auf dem feinen Kies, den gleichmäßig Furchen wie Wasserlinien durchzogen, waren keine Fußspuren zu sehen. Die Linien flossen ohne jede Unterbrechung um die Felsbrocken und Steine herum. Also musste die Frucht bereits dort gelegen haben, bevor ein Mönch mit seiner Harke die Furchen in den Kies gezogen hatte. Ich fand es seltsam, dass der Mönch bei seiner morgendlichen Gartenarbeit die Aprikose übersehen hatte. Der Garten war sonst immer makellos gepflegt.

Aber die Aprikose war mir am Ende gar nicht wichtig. Ich war in den Garten gekommen, um ein wenig Ruhe zu finden. Eine kleine Frucht konnte mich dabei unmöglich stören. Sie war im Vergleich zu den Felsbrocken, den Steinen und dem gesamten Garten winzig. Ich beschloss, sie einfach zu ignorieren. Ich folgte mit den Augen den Furchen, die mir wie Wellenkämme in einem Meer erschienen. Ich spürte ihr Auf und Ab, lauschte ihrer Melodie. Ich schaute die Steine und Felsbrocken an, die sich in kleine und große Inseln in der See verwandelten. Und auf einer der Inseln - lag eine gelbe Riesenkugel mit roten Backen - die Aprikose.

Sie war nicht mehr eine kleine, harmlose Frucht. Sie war ein riesiges Monster, das sich unverschämter Weise mit seinem dicken Körper auf der Spitze einer Insel niedergelassen hatte. Wie ein Diktator thronte es dort ganz auffällig, als wollte es allen seine Macht demonstrieren. Unbeweglich, als würde es niemals seinen Platz verlassen. Ich spürte den machtsüchtigen Charakter seines stämmigen Körpers. Von seinen roten Backen las ich wilden Eifer. Es überblickte die See unter ihm. Es herrschte nicht nur über die Insel, sondern auch über die See rundherum. Die Insulaner konnten nicht mehr frei leben, wenn dieses Monstrum sie die ganze Zeit im Auge behielt. Kein Schiff konnte ohne seine Erlaubnis die Insel passieren. Alle Unbekümmertheit war dahin. Unter diesem Diktator war jeder eingeschüchtert. Die aufgestaute Frustration musste über kurz oder lang zu Unruhe führen. Und zwar nicht nur auf der Insel. Die Funken der Revolte würden auf die anderen Inseln überspringen. Dann wäre es mit dem Frieden an diesem Meer vorbei.

Ich konnte die Frechheit des Riesen nicht länger ertragen. Ich wollte ihn sofort von seinem Thron stoßen. Aber um zu ihm zu gelangen, hätte ich den gefurchten Kies betreten müssen. Das durfte ich bestimmt nicht ohne die Erlaubnis eines der Mönche. Ich schaute mich um. Plötzlich hörte ich von oben ein Flattern. Aus dem Dunkel unter dem Vordach des Klostergebäudes flog eine Krähe. Mit ihren großen Flügeln schlagend, flatterte sie über den Kies und - im Nu hielt sie den Insel-Diktator in ihrem Schnabel. Dann glitt sie weiter über den Kies, über die Felsenbrocken, über die Steine, über die Mauer und verschwand bald aus meinem Sichtfeld. All dies geschah innerhalb weniger Augenblicke. Im Steingarten herrschte wieder Ruhe. Dass noch bis eben eine Aprikose auf einem Felsbrocken den Frieden gestört hatte, erschien mir nur noch wie ein Traum.

Miyuki Tsuji wurde 1968 in Osaka geboren. Nach einem Slavistik-Studium in Tokio reiste sie die Seidenstraße entlang bis nach Europa und ließ sich schließlich in Hamburg nieder. Außer Kurzgeschichten schreibt sie Texte für Comics und Reiseessays.


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