Die Arbeit und ihr Mensch

Film Yulia Lokshina dokumentiert in „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ Schicksale von Tönnies-Angestellten
Ausgabe 43/2020

Man sieht gar keine Bilder von der Arbeit am Band. Wer hofft, in Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit Einblicke in die Hallen der Fleischverarbeitungsfirma Tönnies zu bekommen, die wegen der hohen Covid-Infektionszahlen in Verruf geriet, wird enttäuscht. Vermutlich hat die Firma gute Gründe dafür, ihre Produktionsstätte den Kameras zu verschließen. Aber möglicherweise ist das, was die Dokumentation von Yulia Lokshina zeigt, viel aufschlussreicher, als es Bilder von ekelerregenden Fleischbergen gewesen wären. Denn der Film erzählt davon, was die Arbeit mit denen macht, die sie verrichten.

Das geschieht in lose verbundenen Erzählsträngen. In einem davon begleitet der Film eine Schulklasse, die Brechts Theaterstück Die Heilige Johanna der Schlachthöfe probt. Der Film nutzt quasi die Erklärungen des Lehrers, der für seine Schüler den Marxismus herunterbricht, um zugleich sein Publikum auf den Stand zu bringen. Was bedeuten heute noch die Begriffe „Arbeiter“ und „Arbeiterklasse“? Wer zählt als Arbeiter, und was verbindet diese zu einer Klasse? Bei Tönnies, so wird im Film schnell klar, verbindet die Arbeiter*innen vor allem eines: Sie kommen zum überwiegenden Teil aus Osteuropa.

Einer Handvoll Menschen, die bei Tönnies arbeiten, begegnen wir im Laufe des Films: einem Mann, von dem wir erfahren, dass er Probleme mit Alkohol hat und dass er hofft, demnächst als Erntehelfer in Belgien bessere Bedingungen zu finden. Einem Paar, das die Filmemacherin in ihre Behausung einlässt, eine Art Dauercamper-Hütte, die schon bessere Tage gesehen hat. Dennoch schätzen sie sich glücklich darin – schließlich sind die skandalösen Wohnverhältnisse, die Leiharbeitsfirmen den Tönnies-Mitarbeitern zu Wucherpreisen vermieten, ebenfalls seit dem Corona-Skandal bekannt. Des Weiteren gibt es eine kurze Begegnung mit zwei Menschen, die einen Sprachkurs besuchen. Zeit dafür haben sie nur wegen temporärer Arbeitsunfähigkeit, in einem Fall verursacht durch einen schweren Arbeitsunfall. Und schließlich ist da eine Frau, deren Geschichte der Film aus gutem Grund bis zum Ende hinauszögert, da ihre Dramatik alle anderen in den Schatten stellt.

In kurzen, ruhigen Szenen werden wir mit den Schicksalen dieser Personen konfrontiert. Wie sie in ihrer Heimat lebten, wen sie zurückgelassen haben, welche speziellen Umstände sie in den Schlachtbetrieb gebracht haben, interessiert den Film dabei nicht. Nicht einmal ihr tatsächliches Herkunftsland wird explizit benannt. Sie sind Beispiele – Brecht’sche Figuren, die für ihre „Klasse“ stehen. Es sind ihre Gesichter, die sich einprägen, und Bruchstücke ihrer Geschichte, die als Informationsbrocken hängen bleiben. Wie zum Beispiel der Umstand, dass ein Mann, der seine Frühschicht um vier Uhr morgens beginnt, mangels Transportmöglichkeiten schon um ein Uhr früh mit einem Kollegen zum Arbeitsort fährt, um dann drei Stunden lang in der Umkleide auf seine zwölfstündige Schicht zu warten.

Was anfangs wie ein Mangel an Struktur wirkt, entwickelt sich im Laufe der Zeit immer mehr zu einer Qualität des Films. Es gibt darin eine Lust, Beobachtungen nebeneinanderzustellen und miteinander zu konfrontieren, die Spaß macht – und entsetzt. Die erschütterndste Geschichte ist die der Arbeiterin, die ihr heimlich zur Welt gebrachtes Baby nach der Geburt im Freien liegen lässt. Dies ist kein Spoiler. Keine Nachinszenierung könnte so eindrücklich und verstörend sein wie die Ortsbegehung, bei der eine Aktivistin den Vorfall rekonstruiert. Die Szene ist beispielhaft dafür, wie gerade im Dokumentarfilm manche Verfremdung mehr ausrichtet als der verzweifelte Versuch, das Unbegreifliche zu reinszenieren.

Info

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit Yulia Lokshina Deutschland 2020, 92 Minuten

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