Waliser Kohlemine 1972: Jeder Streik ist wie ein Schnellkurs
Foto: Ron Harding/Mirrorpix/Getty Images
Richtig verstanden habe ich Rosa Luxemburg erst, als ich die verschiedenen Stationen ihres Lebens auf einer Europakarte von vor 1914 nachverfolgte. Zamość, Zürich, Berlin – und dann die schicksalhafte Bahnreise nach Warschau im Jahr 1906, die sie aus einer Welt sozialdemokratischer Solidität in eine der Streiks, Pogrome, Bombenangriffe und in fünf Monate Gefängnis katapultierte.
Bevor ich sie „auf der Karte verortete“, war mir trotz mehr als vierzig Jahren der Beschäftigung mit Luxemburgs Denken nie richtig klar, wie weit nach Westen das russische Reich sich damals ausdehnte und wie nah die gesellschaftlichen Umwälzungen in seinen Grenzgebieten an die „sichere“ Welt des Kaiserreichs und der Internationalen heranreichten.
reichten. Diese Grenze freiwillig zu überschreiten, um sich mit einem gefälschten Ausweis ins Chaos zu begeben, wenn man sein ganzes Erwachsenenleben die Quotenfrau auf den Gruppenfotos älterer, bärtiger Sozialisten gewesen war, erforderte nicht nur Mut, sondern Glauben.Rosa Luxemburg glaubte an die Arbeiterklasse. Sie glaubte an sie nicht nur als geschichtsmächtige Kraft, sondern als lebendige Quelle des Marxismus und Bewährungsprobe seiner Gültigkeit.Als ich Mitte der 1970er politisch aktiv wurde, war die Linke gerade dabei, „mit Luxemburg zu brechen“. Der Anführer der britischen Socialist Workers Party, Tony Cliff, hatte Anfang der 1960er Luxemburgs Werk praktisch im Alleingang populär gemacht. Er lobte ihr Eintreten für eine Arbeiterdemokratie, während er die orthodoxe Kritik an ihrem Glauben an „Spontanität“ übernahm. Doch Ende der 1970er verwandelte sich Cliff in einen Leninisten. Ich erinnere mich, wie er in Hallen voller Arbeiter*innen und Student*innen Vorträge darüber hielt, wieso Lenin und Trotzki recht gehabt hatten, während „Rosa“ falschlag – worauf Feministinnen aus den hinteren Reihen riefen: „Luxemburg, Tony! Luxemburg!“Heute bin ich überzeugt: Luxemburg hatte, was Partei, Spontanität, Demokratie und Dynamik der kapitalistischen Krise angeht, recht, oder sie war zumindest näher an der Wahrheit, als es die orthodoxe marxistische Tradition zugeben konnte. Auch ihre Vorhersage der tatsächlichen Erfahrung der Spontanität und des Bewusstseins, die sich in den Jahren zwischen den Weltkriegen zeigen würde, war treffender.Der Kern von Luxemburgs Denken ist die Überzeugung, dass die Arbeiterklasse die Fähigkeit hat oder diese durch Praxis erwerben kann, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten. Und dass sie in einer Zeit der Kriege und Krisen nicht einfach durch wirtschaftliche Notwendigkeit oder ihr eigenes steigendes Bewusstsein an die Macht getrieben wird, sondern durch drohende Zerstörung. Die Aufgabe der Marxisten sah sie darin, diesen Lernprozess zu unterstützen – vor allem anderen dadurch, dass sie dorthin gingen, wo auch immer die Arbeiter*innen sich befanden.Gucken Sie sich Luxemburgs düsteren Gesichtsausdruck genau an, während sie auf dem berühmten Bild der SPD-Reichsparteischule 1907 neben August Bebel und Franz Mehring steht: Es ist der Blick einer Genossin, die einen Hungerstreik in einem ausländischen Gefängnis hinter sich hatte. Die um die Macht der Erfahrung wusste. Sie war überzeugt, dass Streiks die Arbeiterklasse wie in einem Schnellkurs darauf vorbereiten würden, die Gesellschaft zu organisieren, und dass die ersten Etappen der Revolution so wichtig wie eine Schule wären, in der die Arbeiterklasse lernte, neue, aktive Formen der Demokratie zu entwickeln und hochzuhalten.Im Rückblick ist klar, warum die Linke Luxemburg in den 1960ern wiederentdecken musste: um sich von ihr abzugrenzen. Nach dem traumatischen Prozess, aus der Benommenheit des Nachkriegsbooms aufzuwachen und sich nach den russischen Invasionen in Ungarn und Tschechien von Moskau loszusagen, sehnte sich die Linke in den 1970ern nach etwas Festem, auf dem sie ihr Projekt aufbauen konnte. Da der Stalinismus ausgeschlossen war, blieb der Leninismus. Eine ganze neue Generation von Neo-Jakobinern machte sich also daran, Luxemburgs 1918 geschriebenes meisterhaftes Pamphlet über die Russische Revolution erneut zu widerlegen. In einer ironischen Wendung der Geschichte blieben aber die Arbeiter*innen selbst – ohne es zu wissen – Luxemburg treu. Sie glaubten an ihre eigene Spontanität. Ihnen war klar: Jeder Streik war eine politische Reise, auf dem Weg lernte man etwas dazu.Das vielleicht erste politische Ereignis in meinem Leben war der Anblick der Worte „Weg mit den Tories!“ auf einer Mauer. Das muss 1972 oder 1973 gewesen sein. Ich fragte meinen Vater, was es bedeute. Er antwortete: „Die Minenarbeiter werden streiken und die Tory-Regierung stürzen. Und wir (die Lastwagenfahrer) machen mit.“ Innerhalb weniger Monate kam es dann so. Niemand war überrascht oder fand es seltsam, dass im Lauf der Entwicklungen viele Labour-wählende Arbeiter*innen begannen, revolutionäre Zeitungen zu lesen.Auf Streikposten, in besetzten Fabriken und auf riesigen Demonstrationszügen von Fabrikarbeitern, Druckern und Minenarbeitern traf ich immer wieder auf eine Klasse, die weder in die Theorien Lenins noch Bernsteins passte: Die Leute wollten mehr als nur ein paar Reformen; dem Bolschewismus zum Trotz weigerten sie sich standhaft, linken Organisationen beizutreten, zeigten kein Interesse an aufständischer Gewalt und ihr Internationalismus war eher sentimental als real.Die Qualität von BarrikadenWas sie wollten – und das verstand Luxemburg unter den Vorkriegssozialdemokraten am ehesten –, war Kontrolle; nicht formale Kontrolle wie im italienischen Experiment des „Biennio rosso“ von 1919 bis 1920, sondern tatsächliche Kontrolle.Ich erinnere mich an einen Besuch bei Gardner’s, einer besetzten Maschinenfabrik nahe Manchester, 1980. Ich hatte eine trotzkistische Monatszeitung unter dem Arm, die die Leute dazu aufforderte, mit Streiks und Besetzungen gegen die konservative Sparpolitik zu protestieren. Die Arbeiter produzierten zweimal wöchentlich ein Mitteilungsblatt, das in anderen Fabriken der Gegend verteilt wurde und in dem sie erklärten, wie sie genau das getan hatten. Sie zeigten Filme und gaben linken Performance-Kunstgruppen Raum zum Auftritt. Was hätten sie vom Bolschewismus lernen können oder lernen wollen? Da sie Maschinenbau-Arbeiter waren, war ihre Barrikade wesentlich besser gemacht als alles, was wir zusammengebracht hätten.In ihrem unveröffentlichten Pamphlet über Russland von 1918 besteht Luxemburg darauf, eine proletarische Diktatur könne, ja müsse gleichermaßen eine Demokratie sein – und zwar notwendigerweise mit einigen der formalen Kennzeichen einer bürgerlichen Demokratie. Das blieb eine Widerrede gegenüber allem, was später passiert ist. 1935 versuchte Leo Trotzki, sich davon zu überzeugen, dass sie das nicht wirklich gemeint hatte. Genau wie wir selbst noch in den 1980ern.Für meine Dokumentarfilmreihe R steht für Rosa musste ich Passagen aus ihren Schriften auswählen, die eine klassisch ausgebildete Schauspielerin vortrug. Es war für uns beide nicht leicht. Luxemburgs Sätze sind lang, ihre Nebenbemerkungen und Einschübe so ineinander verschachtelt wie eine Matrjoschka.Erst wenn man die Ironie und den Witz ihrer Worte versteht, entfalten sie ihren vollen Sinn: die Insidergags, die Attacken auf die Parteibürokratie, der beißende Sarkasmus gegen die imperialistische Heuchelei. Das ist der Grundrhythmus von Luxemburgs Stimme. Hat man ihn einmal bemerkt, fällt auf, dass er ihren bolschewistischen Zeitgenossen schlicht abgeht.Eine tragische Folge ihres Todes war, dass sie die Generation der Revolutionären Obleute nicht mehr kennenlernte, den Kern jener militanten Arbeitergruppe, die Anfang der 1920er zwischen der KPD und USPD pendelte, immer auf der Suche nach Demokratie und Kontrolle, und deren taktische Klugheit sich als größer erwies als die ihrer Parteiführer. Luxemburg und sie hätten voneinander lernen können und über die Witze der jeweils anderen lachen.Placeholder authorbio-1
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