In seinem Buch Der Besuch des Leibarztes (2001) erzählt Per Olov Enquist von Christian VII., dem schwerste psychische Schäden zugefügt werden, als der dänische Thronfolger nicht einfach König wird, sondern aus ihm ein König gemacht wird. Doch Christian verweigert sich den Amtsgeschäften und überlässt lieber seinem Leibarzt Struensee das Regieren und auch gleich die Gemahlin, weil er ihn für den besseren Staatsmann und begabteren Liebhaber hält. Ist das eine hellsichtige, von Vernunft geleitete Entscheidung, die das Wohl des Landes ebenso im Blick hat wie das Glück der Gemahlin oder ist ein solcher Herrscher einfach verrückt? Per Olov Enquist kann diese Frage nicht eindeutig entscheiden, denn für ihn vereint Christian VII
istian VII. die dunklen wie die hellen Seiten der Aufklärung in einer Person.Von Verletzungen handelt auch Enquists neuer Roman Das Buch von Blanche und Marie. Darin führt er Blanche Wittmann, die "Königin der Hysterikerinnen", die von Professor Charcot Ende des 19. Jahrhunderts an der Pariser Salpêtrière in öffentlichen Sitzungen einem schaulustigen Publikum als das bemerkenswerteste "Objekt" vorgestellt wird, als einen lebendigen Torso ein - ihr fehlen beide Beine und der linke Arm. Blanche verkörpert nicht nur ihre Lebensgeschichte, wie im Verlauf der Handlung deutlich wird, sondern sie wird für Enquist zugleich zum Sinnbild des beginnenden 20. Jahrhunderts. Unter den sechstausend internierten Frauen der Salpêtrière ist sie eine Ausnahmeerscheinung. Keine ist so begabt wie Blanche, die sechzehn Jahre lang auf jeden Druck, der ihrem Körper zugefügt wird, zum Wohlgefallen ihres Professors mit theatralisch anmutenden "hysterischen" Anfällen reagiert. Als sich Charcot eingestehen muss, dass seine Hysterie-Forschungen wissenschaftlich unhaltbar sind, kompensiert er die Niederlage durch eine Liebesnacht mit Blanche, die er bis dahin nur als wissenschaftliches Objekt behandelt, allerdings anders wahrgenommen hat. Und Blanche beweist ihm im Moment seiner größten Niederlage ihre Liebe und gibt sich ihm nicht mehr als Objekt, sondern als Frau hin. Doch der Beginn einer möglichen Liebe ist nur von kurzer Dauer, noch in der selben Nacht stirbt Charcot.Als Blanche mit den Aufzeichnungen ihrer drei Fragebücher beginnt, es handelt sich um ein schwarzes, ein rotes und ein gelbes Buch, die einzelnen Kapitel werden als Gesänge bezeichnet, fristet sie ihr Dasein in einem Holzkasten, ist aber alles andere als verbittert. Nach ihrer Entlassung aus der Salpêtrière wurde sie Assistentin von Marie Curie und half der bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Wissenschaftlerin bei der Entdeckung des Radiums. Dabei kam Blanche mit radioaktivem Material in Kontakt, was die Amputationen nach sich zog.In Enquists neuem Buch, in dem es wiederum um Leidenschaften und Vernunft geht, das von der Zerrissenheit des modernen Menschen handelt, der vom unkontrollierten Begehren so erfasst werden kann, dass sein Tun außer Kontrolle gerät, kommt erneut der Lichtmetaphorik eine zentrale Bedeutung zu. Bereits in seinem vorletzten Buch Lewis Reise (2003) ist es das Sonnenlicht, das die Handlung in Gang bringt. Der Erzähler beobachtet auf einem Friedhof, wie für einen kurzen Moment ein Sonnenstrahl auf einen Grabstein fällt und dafür sorgt, dass ein Name sichtbar wird. Dieses Schauspiel dient Enquist als Gleichnis, denn im Wechselspiel zwischen Licht und Schatten werden auf dem Grabstein Daten sichtbar. Doch diese Hinweise auf ein gelebtes Leben drohen im Dunkeln zu verschwinden, wenn sich niemand findet, der den nackten Angaben eine Physiognomie verleiht.In Enquists neuem Roman ist erneut vom Licht die Rede. Diesmal vom zauberhaft, faszinierenden Licht, das vom Radium ausgestrahlt wird, und das verführerisch und gefährlich zugleich ist. Es gibt das blaue Licht nicht ohne den Schatten, wie es die öffentlichen Hysterieschauspiele nicht ohne die "Armee von Schatten" gibt, von "blutgefüllten" Frauenschatten, die in der Salpêtrière gefangen gehalten werden. Dem Schicksal einer dieser Frauen geht Enquist nach und rekonstruiert Blanches Leben in seinen entscheidenden Phasen.Auffällig an Enquists Büchern aus den letzten Jahren ist, dass sie alle um Ideen kreisen, die mit der Aufklärung zusammenhängen, und die das europäische Denken so nachhaltig geprägt haben. Die vielfachen und unterschiedlichen Facetten, die diesen Ideen eigen sind, spiegelt der Autor in seiner Prosa, wobei Enquist seine Aufmerksamkeit gerade auf diejenigen richtet, die bei der Suche nach dem Licht ins Dunkel der Geschichte gestoßen werden, die der Preis des Fortschritts sind. Deshalb ist neben den Frauenfiguren auch ein Mann wie Charcot für Enquist von Interesse, denn nicht nur er, sondern auch die Öffentlichkeit ist der Meinung, er sei ein Vertreter der Aufklärung und seine Experimente dienten dem medizinischen Fortschritt. Das Gegenteil ist der Fall.Anders als Charcot ist Marie Curie eine Forscherin, der es mit der Entdeckung des Radiums gelingt, Bereiche zu erhellen, die bis dahin gänzlich im Dunkeln lagen. Als allerdings bekannt wird, dass sie für diese bahnbrechende Leistung 1911 ihren zweiten Nobelpreis, diesmal für Chemie, erhält, wird dieses Ereignis von der französischen Presse mit keinem Wort gewürdigt. In der Öffentlichkeit wird die Auszeichnung ignoriert, weil kurz zuvor bekannt wurde, dass sich die Naturforscherin Gefühle erlaubt hat - verbotene Gefühle, denn man weist ihr ein Verhältnis zu einem verheirateten Mann nach. Und eben das wird zur eigentlichen Sensation stilisiert: die Gefährdung der Moral durch Marie Curie und nicht ihre wissenschaftliche Leistung. Charcot ist zwar gescheitert, aber seine Vorführungen hysterischer Frauen sind noch gut in Erinnerung und wirken fort, strahlen aus. Als Marie "von der tödlichen Krankheit der Liebe befallen [wird], die nicht schön ist, nicht immer", wird sie zum Objekt gemacht. Es sei eine Schande für Frankreich, so Enquists lakonischer Berichtsstil im Ton der Presse, dass einer Frau, die eine Familie zerstört hat, der Nobelpreis zuerkannt wird. Eine Einschätzung, der sich auch das schwedische Nobelpreiskomitee anschließt, das Marie Curie empfiehlt, auf den Preis zu verzichten.Erzählerische Brisanz bekommt diese Geschichte, da Enquist sie in Beziehung zu Charcots fragwürdigen wissenschaftlichen Experimenten sieht, für die er mit einer Bronze in Lebensgröße geehrt wird, die bis 1942 am Eingang der Salpêtrière steht. Dagegen muss Marie Curie nach ihrer Rückkehr von der Nobelpreisverleihung beinahe drei Jahre vor der französischen Öffentlichkeit fliehen. Als sie 1934 stirbt, sind bei ihrer Beisetzung die Familie und fünf Freunde zugegen. Für die Presse ist diese "Schlichtheit" ein Zeichen ihres "unübertroffenen Hochmuts".Beide Frauenfiguren, Blanche und Marie, gehen, "umstrahlt von der Schönheit des neuen Stoffs", dem Radium, "durch das Tor der Modernität des 20. Jahrhunderts". Das Licht, das auf sie fällt, wirft allerdings auch einen Schatten, der bis ins 21. Jahrhundert reicht, denn sie sind beide auch gezeichnet von Verletzungen. Enquists Buch ist ein Buch über die Liebe, das einem Motto folgt: "Amor omnia vincit - die Liebe überwindet alles". Doch bei der Gewissheit, die dieser Satz ausdrückt, und der sich gut in jedem Stammbuch machen würde, belässt es Enquist gerade nicht. Bei ihm steht mehr zur Disposition. Zwar erzählt er brillant eine ergreifende Geschichte von Liebesglück und Liebesleid, aber Größe und Brisanz kommt seiner Geschichte erst dadurch zu, dass sie an den scharfen Kanten des heraufziehenden 20. Jahrhunderts gebrochen wird.Per Olov Enquist: Das Buch von Blanche und Marie. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt, Hanser, München 2005, 237 S., 19,90 EUR
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