Wäre Pierre Bourdieu beim Weltsozialforum in Porto Alegre dabei gewesen, so hätte er vielleicht das gesagt, was en passant in einem seiner Bücher steht: Freunde, es reicht nicht, die moralische Verkommenheit des Systems anzuklagen, man muss auch die Macht seiner logischen Grundlagen brechen. "Das tun wir doch längst", hätte ihm mancher junge Aktivist entgegengehalten. Und ein ergrauter Philosoph hegelianischer Schule hätte vielleicht hinzugefügt: "Die Logik des Systems haben wir im Kopf längst gebrochen und in vielen Projekten auch schon praktisch negiert."
Was Initiativen, Bündnisse und Nichtregierungsorganisationen an ideeller Vielfalt und praktischer Reife in den unterschiedlichsten Feldern der Entwicklungspolitik zu bieten haben, ist in der T
t in der Tat erstaunlich und steht in frappierendem Gegensatz zur Sterilität der vom Norden verordneten Rezepte. Man könnte von ideeller Hegemonie sprechen: Jene Bewegungen haben nicht nur die Moral, sondern auch die Logik auf ihrer Seite. Würden sich Internationaler Währungsfonds (IWF) und Co. auf eine herrschaftsfreie Kommunikation und auf einen Wettbewerb der Ideen einlassen - sie würden verlieren. Ihnen bliebe nicht viel mehr als die nackte Macht - keine subtilen Mittel der Überzeugung, sondern Erpressung, Korruption, Marktbarrieren und manchmal auch militärische Gewalt.Dennoch hat Bourdieu nicht Unrecht - wenn man seine Mahnung auf den Norden bezieht. Hier sind die logischen Grundlagen des Status Quo - also die Deutungsmuster für den Kopf und die Verhaltensangebote für die alltägliche Praxis - ungebrochen. Die Mehrheit des Nordens hält eine andere Welt weder theoretisch für denkbar noch praktisch für möglich. Scheinbar ist alles verfügbar, veränderbar und machbar, bis hinein in die intimsten Geheimnisse des Lebens - nur die Prinzipien der Marktgesellschaft sind unantastbar. Der Verwertung der Natur entspricht die Naturalisierung des Werts, des Kapitalwerts, um den sich - nach einer zwischenzeitlichen Relativierung während der ersten Nachkriegsjahrzehnte - wieder alles dreht. Es gibt wohl ein Unbehagen, gelegentlich auch einen Aufschrei gegen eine Kommerzialisierung, die zu weit geht, aber durchdachte Alternativen existieren kaum. Dabei wäre das ökonomische Problem, verstanden im Sinne einer umfassenden Güterversorgung, in Westeuropa und Nordamerika längst erledigt, wenn wir uns zu der Effizienz, die den herrschenden Organisationsformen innewohnt, andere Produktpräferenzen, andere Finanzierungsformen, eine andere Verteilung und eine kreative Politik hinzudenken. Man wird den Verdacht nicht los, dass nicht einmal ein Hauch jener Freiheit, die längst möglich wäre, in die Köpfe kommen soll.Mehr denn je scheint die Forderung berechtigt, dass wir an Stelle des Totalitarismus kapitalistischer In-Wert-Setzung, der alles einem in Geld messbaren Nützlichkeitskalkül unterwirft, etwas ganz anderes brauchen. Einen totalen Bruch, der jener Totalität der kapitalistischen Anmaßung entspricht. Die Gesamtheit wirtschaftlichen Handelns mit einem großen Donnerschlag von äußeren Zwängen zu befreien, alles abzuschaffen, was nach Entfremdung riecht, wäre allerdings die Negation, die zu der anderen Welt, die auch der Norden braucht, nichts beiträgt. Im reinen Licht sieht man so wenig wie in der völligen Finsternis. Und wer die totale Freiheit will, muss Auskunft geben, wie denn die Umkehr in ihr Gegenteil zu verhindern ist. Die Geschichte lehrt Vorsicht bei diesem unnachsichtigen Streben.Traditionslos - ohne Kenntnis und Verarbeitung des Vorhergehenden - kommt nichts zur Welt, jedenfalls nichts Vernünftiges. In Kunst und Wissenschaft, in jedem Beruf ist das eine Selbstverständlichkeit. Nur das vorhandene Wissen über die bürgerliche Ökonomie wird von denjenigen, die eine andere Welt wollen, mit einer unglaublichen Hartnäckigkeit fast vollständig ignoriert. Ob man die traditionelle Linke nimmt oder die neuen sozialen Bewegungen: Zu den klassischen Themen der Volkswirtschaft - Investition, Innovation, Beschäftigung, Einkommen, Preisbildung - gibt es kaum neue Ideen und brauchbare Konzepte. Und wenn es um die Organisation von Unternehmen geht, sind die Bürger erst recht unter sich. Die Linke, ob alt oder neu, praktiziert fast ohne Ausnahme Stimmenthaltung.Wenn heute in der Öffentlichkeit über Arbeitsplätze und Investitionen sowie über Anreize diskutiert wird, die beides befördern sollen, ist nahezu jeder kritische Bezug auf Interessen und Macht aus dem vorherrschenden Denken getilgt. Diejenigen, die nach Alternativen suchen, kritisieren das mit Recht, machen aber allzu häufig den umgekehrten Fehler: Nahezu jedes wirtschaftliche Phänomen wird auf seinen Herrschaftsaspekt reduziert. Da nun Herrschaft beseitigt werden soll, wird in einem Kurzschluss nahezu das gesamte Erbe über Bord geworfen - als hätten wir es immer noch mit Pyramiden zu tun, die von Sklaven errichtet wurden. Gibt es im heutigen Herrschaftsgefüge und mit ihm verwoben, nicht vielleicht auch eine Rationalität, die mit der zweifelsfreien Nützlichkeit vieler Gebrauchsgüter korrespondiert?Bei den Gegenständen des Konsums und bei den Verfahren, mit denen sie hergestellt wurden, wissen wir kritischen Zeitgenossen mittlerweile zu unterscheiden - zwischen sinnvollen und ökologisch vertretbaren Produkten und jenen, die keine Zukunft haben dürfen. Warum sollten wir nicht mit gleicher analytischer Schärfe und intellektueller Offenheit an Markt- und Unternehmensformen, an Finanz- und Arbeitsmärkte herantreten? Nicht weil wir - angesichts der scheinbaren Unbezwingbarkeit der herrschenden Verhältnisse - von vornherein unsere Ansprüche herunterschrauben und uns vorsorglich auf ein kompatibles Niveau begeben, sondern weil wir uns selbstbewusst fragen, welche Erfahrungen hält die bürgerliche Epoche bereit, was ist brauchbar, was grundlegend zu reformieren und was ersatzlos abzuschaffen? Selbstverständlich gehören dazu auch die Fragen des Eigentums, die in aller Radikalität zu stellen sind, wenn nicht jeder alternative Entwurf gleich wieder zum Gefangenen der Finanzmärkte werden soll.Wir brauchen eine Utopie, aber nach menschlichem Maß. Märkte und Unternehmen gehören ebenso dazu wie neue Leitbilder der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit, denen sie sich fügen müssen. Nur so überwinden wir die Armut des Geistes, die im Norden leider nicht nur das Establishment prägt.
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