Terror und Medien Neue soziale Internet-Dienste wie "Twitter" schaffen eine neue Form der interaktiven Öffentlickeit. Gerade in Katastrophensituationen wie in Mumbai
Zwischen den beiden Einträgen der Inderin Netra liegen 3 Stunden und 15 Sekunden. Eine Ewigkeit im Internet. Nicht sehr viel Zeit in einem gewöhnlichen Arbeitstag wie diesem Mittwoch, an dem sich Netra über die Plattform Twitter per Textbotschaften mit Freunden verabredet, Geburtstagsgrüße sendet oder einfach allen einen "Guten Morgen" wünscht. "Freu mich, Dich heute bei der Eye of Traövel-Tagung zu sehen", schreibt sie um 13.58 Uhr indischer Zeit. Mit einem neuen Eintrag meldet sie sich um 17.16 Uhr wieder: "Ja, ich schaue Nachrichten - in Colaba sind Schüsse gefallen". Dahinter setzt sie einen traurigen Smiley - :(
Von nun an geht alles rasend schnell. 17.25 Uhr: "beim Hotel Oberoi passiert irgendetwas? ... Schüsse aus dem Oberoi ..." 17.28 Uhr
17.28 Uhr: "Granaten sind geworfen worden ... 2 Menschen verletzt :( ....sooooo traurig." Nicht nur Netra postet an diesem frühen Mittwochabend nun im Minutentakt ihre Beobachtungen, Tausende anderer Benutzer bestücken den Online-Dienst Twitter weltweit mit ihren Botschaften, die maximal 140 Zeichen umfassen und per Handy geschickt werden können. Die so genannten Tweets berichten lange vor Nachrichtenagenturen und Fernsehsendern von der Aktion islamistischer Terroristen in der indischen Finanz- und Handelsmetropole Mumbai, die sich ihren Weg durch die Stadt schießen, drei Tage lang das Hotel Taj Mahal und das Hotel Oberoi und ein jüdisches Gemeindezentrum besetzt halten, Geiseln nehmen und über 100 Menschen töten werden.Damit hat nicht nur der Terror in seiner Dauer eine neue Dimension erreicht. Auch dessen mediale Bühne, die bereits den Anschlägen vom 11. September 2001 ihre ikonografische Wucht verlieh. Sie spiegelt immer auch die Verarbeitung von Terror, des Risses im Ordnungsgefüge westlicher Gesellschaften, mit ihren technischen Möglichkeiten.Während 2001 noch Fernsehbilder der brennenden Türme des World Trade Centers in Filmschleifen wieder und wieder kollektiv gesehen und kommentiert wurden, so rückte spätestens mit den Bombenanschlägen auf Londoner U-Bahnen und Busse 2005 ein anderes Bilddokument in den Vordergrund: Das verwackelte Handykamerabild, unmittelbar aufgenommen und verschickt von Augenzeugen. Unzählige SMS-Nachrichten wurden damals versendet, etwas später tauschten Blogger ihre Erlebnisse, Meinungen und Deutungsversuche aus.Seit im so genannten Web 2.0 nicht mehr der reine Konsument von Information oder Serviceleistungen zählt, sondern der interaktive Benutzer, der Texte verfasst, Bilder und Videomaterial ins Netz stellt, ist die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Eigenvermarktung gestiegen. Soziale Netzwerke wie Facebook oder MySpace schaffen virtuelle Räume, in denen sich neue und flüchtigere Gemeinschaften organisieren, die im Alltag von Oberflächlichkeiten zusammen gehalten werden. Wie sich gerade in Indien auch gezeigt hat, haben soziale Dienste wie Twitter oder auch das Fotoportal Flickr, auf dem jeder Nutzer seine Bilder einer weltweiten Öffentlichkeit präsentieren kann, gerade in Krisensituationen eine besondere Funktion erlangt. Die Brecht´sche Radiotheorie, also die Utopie einer Technik, die sowohl Sender als auch Empfänger sein könne, scheint erstaunlich real geworden zu sein und ist sich alles andere als eine intellektuelle Spielerei: Sie erfüllt gesellschaftliche (Kommunikations)Bedürfnisse.Um 23.05 Uhr an jenem Mittwochabend sorgt sich Benutzer "Eldiablito" um "die armen US-Amerikaner und Briten in Mumbai. Meine Gedanken sind bei ihren Familien." "Dkris" meldet um 23.10 Uhr: "Zur Hölle! Im obersten Stockwerk des Taj Mahal ist schon wieder Feuer". "Jasonbentley" gesteht kurz darauf, dass die Vorbereitungen für Thanksgiving angesichts des Horros in Mumbai ein bisschen lächerlich erscheinen. "Kattaka" schließlich macht sich Sorgen um ihre Freunde in Mumbai. Und denkt über Jobs nach. Andere verlinken auf Fernsehsender und geben Ansprechpartner für US-Bürger durch.Über 5.000 Einträge, Kurznachrichten, Gefühlsäußerungen, Links zu Nachrichtenportalen sowie Überblicke über Service-Stellen und Hotlines, waren allein in der Stunde zwischen 23 Uhr und Mitternacht am ersten Tag der Anschläge von Mumbai auf Twitter abrufbar - und sie bleiben dort archiviert. Ebenso wie die Bilddokumente auf Flickr, etwa die Fotostrecke "Bombay Blast", die das Chaos auf den Straßen Mumbais nach den ersten Detonationen zeigt.Über Nacht sind aus den noch jungen Web 2.0-Portalen, die vielen als lächerlicher Zeitvertreib einer unpolitischen, konsumorientierten Internetgeneration galten, Speichermedien eines Prozesses geworden, der in der Geschichtswissenschaft mit oral history umschrieben ist: die Einordnung und Aneignung eines Ereignisses mithilfe von Zeitzeugenberichten aus verschiedenen Schichten, inklusive Gerüchten, Eindrücken und ungeprüften Fakten. Twitter lieferte all das bereits schriftlich dokumentiert und in einer neuen Qualität: in Echtzeit. Die Erzählung schrieb sich parallel zum Geschehen, nicht mehr danach wie bei den Anschlägen in New York, London oder Madrid.Das Twitter-Prinzip, also die massenhafte, interaktive Beschreibung eines Realitätsausschnitts, schafft keine Gegenöffentlichkeit, wie einige der etablierten Medien prompt befürchteten. Es schafft eine neue Form der Öffentlichkeit, die wiederum auf traditionelle Medien abfärbt. So rekrutierten auch die BBC oder CNN ihre Augenzeugen-Interviews über Twitter und schalteten Handy-Anrufer aus Mumbai direkt in ihre Sendungen. Der Umweg über die Korrespondenten vor Ort war nicht mehr zwingend. Zugleich schalteten die Sender auf ihren Internetseiten so genannte Liveticker frei, in denen offiziell bestätigte Informationen und Nachrichten vermischt mit Vermutungen und Berichtigungen im Minutentakt veröffentlicht wurden. Jedoch mit einem Unterschied zu Twitter. Hier ging es schlicht um die schnelle Sensation, um das dramatische Potential speziell dieses Terroranschlags als globales Leidensspektakel, wie es die israelische Soziologin Eva Illouz am Beispiel von Talkshows als charakteristisch westliche Kulturform entwirft: "Vom Fotojournalismus über die Seifenopern bis zu den Abendnachrichten weiden sich die globalen Medien am Spektakel öffentlichen Leids. Ikonen des Schmerzes und der Verzweiflung sind - nicht weniger als die Ikonen des Glamour - das ständige, reguläre Sujet, aus dem sich die globale Vorstellungskraft speist." Der Augenzeuge, per Mobiltelefon zugeschaltet, ist nicht mehr als ein Protagonist in der globalen, westlichen Kultur-Erzählung - gegen die sich zynischerweise gerade Terroranschläge islamistischer Fundamentalisten richten.Bei Twitter verhält es sich anders. Er ist in seinem Selbstverständnis kein Nachrichtendienst, keine Nachrichtenagentur, die den Journalismus in seiner Schnelligkeit überflüssig macht. Er versteht sich als sozialer Dienst, in dem nicht die faktische, objektive Nachricht Gegenstand der Kommunikation und Wahrheit der Leitwert sind, sondern wie Medienwissenschaftler Norbert Bolz es beschreibt, "Subjektivität und Authentizität". Gerade ein hohes Maß an Emotionalisierung stellt diese Werte im Web 2.0, in Blogs und im Twitter-Gezwitscher sicher. Statt Wahrheit im traditionell aufklärerischen Sinn ermögliche das Internet eine völlig neue Form von Wahrheit: ein Marktmodell der Meinungen. Jeder Unsinn werde veröffentlicht, jedoch schnell durch Korrekturen relativiert.Dieser dezentrale Mechanismus verleiht nicht nur der Masse eine Stimme und führt zu kommerzialisierten Öffentlichkeiten, wie etwa im Fall des Netzwerkes MySpace, das die Musikindustrie schnell als Marketingplattform entdeckt hat. Er verhindert auch Formen der Zensur und schafft wie zuletzt im Fall der unterdrückten Mönche in Birma, die über Twitter von ihrer Situation berichteten, prinzipiell eine weltweit zugängliche Öffentlichkeit.Bolz argumentiert, dass die Logik des Netzes schwache Bindungen prämiere und somit das traditionelle kulturelle Selbstverständnis verändere. Gerade im Geschwätz, der Redundanz des Alltags, in der Ansammlung Hunderter von "Freunden" in sozialen Netzwerken liegt die Bedeutung für das moderne Zusammenleben. Das Mitleiden und sich Sorgen, die emotionalen Smileys und Traurigkeitsbekundungen in den Twitter-Mitteilungen während der Anschläge in Mumbai folgen dieser Logik: Solidaritätsbekundungen Hunderter von Leuten, die sich punktuell zu einem Anlass mobilisieren. Dieses Potential von Twitter hat längst auch die Politik entdeckt. Im US-Präsidentschaftswahlkampf hat einer der nun mächtigsten Männer der Welt die neue Kommunkationsform ernst genommen und politischen Gewinn daraus gezogen: Barack Obama mobiliserte mit seinen Wahlkämpfern auch mit Nachrichten auf Twitter seine Wähler.GlossarTwitter (www.twitter.com): Gut fünf Millionen nutzen mittlerweile den Micro-Blogging-Dienst, der nach seiner Funktion benannt ist: alles mögliche in die Welt zu "zwitschern" (engl. "tweet", deutsch zwitschern). Die Nachrichten, maximal 140 Zeichen lang, auch per Handy eintragbar, heißen "Updates" oder "Tweets". Die Nutzer melden sich unter einem Benutzernamen an und vernetzen sich, indem sie anderen Benutzern folgen (engl. "following") und ihre Updates abonnieren. Außerdem bietet Twitter über eine Programmierschnittstelle (API) verschiedene Kanäle an, in denen die Tweets eingegeben und abgerufen werden können. "Mumbai" etwa ist einer dieser Kanäle. Gegründet wurde Twitter 2006, seit einem Jahr ist die Firma eigenständig und nicht mehr Teil der Firma Obvoius. Twitter finanziert sich aber nicht über Werbung oder anderen Einnahmequellen. Unternehmen wie Cisco nutzen Twitter jedoch auch, um Produktinformationen zur Verfügung zu stellen.
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