Gegen das gefühlige Fühlen Dimiter Gotscheff inszeniert am Deutschen Theater "Geschichten aus dem Wiener Wald" von Ödön von Horváth aufregend einseitig
Die jetzige Inszenierung der Geschichten aus dem Wiener Wald von Ödön von Horváth im Deutschen Theater Berlin unterscheidet sich genauso entschieden von der Uraufführung dieses "neuen Volksstücks" im gleichen Haus in der Regie von Heinz Hilpert im November 1931 wie von seiner Wiederinszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters 1995 in der Regie von Thomas Langhoff. Uraufführung wie Neuinszenierung waren vom traditionellen Realismus geprägt. Das Bühnenbild und die Kostüme der Uraufführung, von Ernst Schütte gestaltet, täuschten das Wien, "wie es leibt und lebt", vor, die Wachau ebenso wie den Laden "Zum Zauberkönig" und die Fleischerei des Metzgers Oskar. Die Darsteller "verkörperten" die Figuren und schlü
schlüpften sogar mundartlich in sie hinein (was den Hauptdarstellern damals überhaupt nicht schwer fiel, weil sie ihren angeborenen Dialekt sprechen konnten: Hans Moser war der "Zauberkönig", Paul Hörbiger der Rittmeister, Peter Lorre spielte Alfred und Carola Neher die Marianne, die Tochter des "Zauberkönigs", das Objekt der Begierde der Männer, armes Hascherl im Geiste, nach vergeblichem Ausbruchsversuch schließlich doch verratzt und verkauft an sie).In der Inszenierung von Langhoff war das Verhältnis zwar umgekehrt: "Weanerisch" vermochte in diesem Ensemble nur der neu dazu gekommene Walter Schmiedinger zu sprechen, der das entsprechend ausspielte und gar nicht zu begreifen vermochte, warum er trotzdem (oder gerade deshalb) von Mitspielern wie Publikum so recht nur als "Exot" wahrgenommen wurde. Auch wenn die Bühnengestaltung und Kostüme weniger illustrierend waren, so bewegte sich auch diese Neuinszenierung doch im Rahmen eines "vormachenden", Wirklichkeit "vorspiegelnden" Theaters.Ganz anders nun Gottscheff. Jede Abbildung von "Milieu", gar von Natur scheint ihm nicht nur ein Ärgernis, sondern ein Gräuel. Er entgegenständlicht im Wortsinn die Bühne. Jens Kilian lässt nur den Rundhorizont mit einer Öffnung im Hintergrund übrig. Alle konkreten Äußerlichkeiten, Lokalitäten wie Mobiliar (mit Ausnahme von Stühlen), müssen vom Zuschauer imaginiert werden, sogar die Wiege samt unerwünschtem Säugling Leopold werden durch einen Stuhl versinnbildlicht, der von der bösen Engelmacherin von Großmutter einfach umgekippt wird.Wichtiges Mitgestaltungsmittel wird die Drehbühne (von Max Reinhardt vor hundert Jahren in die technische Ausrüstung des Deutschen Theaters eingebaut). Durch ihre Bewegung kommt immer wieder Schwung in die Szene, auf ihr formieren sich die Darsteller, die gerade nicht an der Rampe zu agieren haben, zu diffusen Kollektiven, tanzen Walzer, mimen Krieg, Heurigenrausch und kollektiven Wahn. Auch wenn sie heraus und in ihre konkreten Rollen treten, stellen sie weniger Individuen, Charaktere, Personen, sondern eher Figuren dar, die zu einer Typage, nein, nicht der "schönen Wienerstadt", sondern einer nicht nur entaustriazisierten, sondern eher internationalisierten "neuen Mitte" von hier und heute gehören.Natürlich hat jede, hat jeder ein Siegel auf der Stirn, aber was sie unterscheidbar macht, ist vornehmlich die Unterscheidbarkeit im Ausmaß von Dummheit, Selbstsicht und Selbstsucht, von Borniertheit in den Ansichten von Gott und Welt, von Per- und Impertinenz der Verfolgung eigener Interessen, wofür die wiederholt ausgestoßenen Aufschreie der unseligen Großmutter das Leitmotiv abgeben: "Ich will mein Geld, ich will mein Geld zurück!"Was die auf einer Beleuchterbrücke hochgezogene Kapelle an schräger, kitschiger, greller, geiler, verhöhnender Musik von Bernd Wrede beiträgt, dient der Rhythmisierung dieses unseligen Reigens. So gesehen, erfüllen Bühnengestaltung wie Spiel- und Darstellungsweise den Wunsch des Metzgers Oskar, der der ihm versprochenen Marianne gewaltsam einen Kuss aufgepresst hat und von ihr nun hören will, ob sie ihn liebt: "Jetzt möchte ich in deinen Kopf hineinsehen können, ich möchte dir mal die Hirnschale herunter und nachkontrollieren, was du da drinnen denkst." Was diese Art der Inszenierung aufdeckt, ist der Blick unter die Hirnschale des "juste milieu" von heute. Wenn dabei die "Gemütlichkeit", die Schrammelsentimentalität, das gefühlige Fühlen auf der Strecke bleiben, so treten hinter dieser "Abgeschminktheit" die sich im Jargon der Uneigentlichkeit aus Bibel- und Klassikersprüchen versteckende Brutalität, die Egomanie, die Entmenschlichung solcher Art Gesellschaftlichkeit in ihren heutigen Erscheinungsformen hervor.Mitfühlen lässt in dieser Inszenierung am stärksten naturgemäß die Marianne, dargestellt von Fritzi Haberlandt, die in Hamburg als Lulu durch die Szene ging, der aller Schmutz der schmierigen Männerwelt nichts anhaben kann. Diese Unschuld verteidigt sie nun auch als brave Tochter des "Zauberkönigs" bis zum Anschein der Unbedarftheit, um dann, merkwürdig genug, ausgerechnet durch den Schlawiner Alfred "erweckt" zu werden. Sie versucht auszubrechen und endet natürlich im Augensinn "im Schlamm" (die einzige Stelle, in der der Antinaturalismus der Szene durchbrochen wird), büßt ihr Kind ein und kann letztlich der angedrohten Liebe des Metzgers doch nicht entgehen. In ihrer Staksigkeit wie Starrigkeit, ihrem schließlichen Erstarren ist das eine anziehende Leistung.Der Metzger in der Darstellung durch Sebastian Blomberg gibt fast zu wenig die wandelnde Blutwurst, sondern mehr den selbstgerechten Mittelständler im Konfektionsanzug von heute. Alfred in der Darstellung durch Peter Jordan ist der oberflächliche Nichtsnutz, ausgehalten von den "Weibern" unterschiedlichen Alters, Randständiger, Überständiger der fallierten "Golf-Generation". Christian Grashof als "Zauberkönig" entspricht dem selbstgerechten père de famille von einst, ein lamentierender Selbstbemitleider, der als Beichtvater zum unbarmherzigen Verurteiler des "gefallenen Mädchens" wird. Die Entsprechungen zu diesen verrotteten Spießern sind "die Weiber", von denen die abgelebte Tabaktrafikantin der Almut Zilcher, die nach jeder Männerhose greift, noch die sympathischste, weil, Gott sei´s geklagt, die vernünftigste, damit die versöhnlerischste ist, während die Mutter des Alfred in der Darstellung durch Gabriele Heinz eine verdruckte Kreatur ist, die Großmutter aber in der Darstellung durch Margit Bendokat sehr vereinseitigt als dröhnende Dragonerin durchs Spiel zu stiefeln hat.Der Inszenierung mag (nach Müllers Germania im Deutschen und Tschechows Iwanow in der Volksbühne) bereits den Eindruck eines neuen Manierismus des Regisseurs aufkommen lassen. Aber sie ist engagiertes Theater, gegen die Veroberflächlichung, gegen das allseitige Gefälligkeitsgeschiele, gegen die funktionale Entgesellschaftung des Theaters zur nichtsnutzigen Unterhaltungsveranstaltung für die besitzende Klasse gerichtet. Innovativ und aufstörend ist sie gerade in ihrer Einseitigkeit.
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