Die Bahn ist unsere kaputte Zukunft

Meinung Zwischen 9-Euro-Ticket und Infrastruktur-Kollaps: Wir brauchen eine neue Bahnreform. Es darf keine Denkverbote geben
Ausgabe 35/2022
Ist da wer? Um eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets scheint sich die Politik aktuell nicht sonderlich zu bemühen
Ist da wer? Um eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets scheint sich die Politik aktuell nicht sonderlich zu bemühen

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

Im Bund wird noch beraten, Berlin prescht schon mal vor: Zwar soll die von Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) geplante „Verlängerung“ des 9-Euro-Tickets nur für die Innenstadt gelten, schon das nahe Potsdam fiele nicht darunter. Dennoch ist dies nicht nur eine materielle Entlastung, sondern auch ein wichtiges Signal: Ein nahezu kostenfreier Personennahverkehr ist nicht mehr undenkbar. Und dass eine radikale Preissenkung auch im Regional- und Fernverkehr der Bahn nun bundesweit auf der Agenda steht, ist eine Revolution.

Nun kommen Umschwünge oft überraschend. Noch im Januar konnte sich wohl niemand ein 9-Euro-Ticket auch nur vorstellen. So traf das Neue auf ungünstige Umstände: Der Schienen-Boom des Sommers zeigte drastisch auch einen Notstand auf: Nicht nur die Klima-, Ukraine-, Corona-, Gas- und Inflationskrise sind Megathemen, sondern auch die Krise der Deutschen Bahn. Personal- und Materialmangel und eine verbrauchte Basis-Technik von den Gleisen bis zu den Stellwerken lassen Zugausfälle und krasse Verspätungen normal werden. Das ist auch für die Bahn ein Problem – gehört doch zur Reiseroutine längst auch das Regressformular.

Die Bevölkerung murmelt ob all dessen sarkastisch vor sich hin. Die Politik aber schweigt. Da zerbröselt vor aller Augen eine ganz basale Infrastruktur, die historisch viel dazu beigetragen hat, aus dem Flickenteppich der deutschen Fürstentümer einen funktionierenden Staat zu machen und deren künftige Bedeutung – Klimawandel, strategische Ölabhängigkeit – wir tagtäglich sehen. Doch scheint sich niemand auch nur zu dem Signal bemüßigt zu fühlen, dass die Bahn-Krise auf dem Zettel steht. Wo bleiben die „Zehn-Punkte-Pläne“, mit denen man uns sonst gerne traktiert?

Bei Deutscher Bahn muss Grundsätzliches auf den Prüfstand

Von einem FDP-Verkehrsminister ist das viel verlangt. Und Volker Wissing ist zunächst mit Notoperationen beschäftigt. Die Misere wird jetzt auch deshalb so plastisch, weil zunehmend ganze Strecken dichtgemacht werden, statt Probleme stückweise bei laufendem Verkehr zu lösen. Dass aber eine solche Sofort-Kur nötig ist, unterstreicht nur die Dringlichkeit eines großen Wurfs: Mehr von dem, das hierherführte, kann es offenbar nicht sein.

Gewiss: Koalitionsdisziplin! Aber wäre das nicht trotzdem was für die kraftstrotzenden Grünen, die selbsterklärte Bahn-Partei? Deren Beißhemmung hat einen tiefsitzenden Grund. Mit dem 9-Euro-Ticket geht nämlich kein „Neudenken der Schiene“ einher, sondern die gute alte Vorstellung einer öffentlichen Dienstleistung: Was man perspektivisch allen gegen niedrige Unkostenbeiträge zur Verfügung stellen will, kann man nicht weiter als Geschäftsfeld behandeln. Es muss jetzt auch das Grundsätzliche auf den Prüfstand: die „Bahnreform“ von 1994. Die DB, wollte man damals glauben, werde langfristig besser, wenn sie unternehmerisch agiere. Wer will das heute unterschreiben? Jenseits aller Beschlusslagen gibt’s viel vage grüne Kritik, doch ein so dickes Brett will man auch nicht wirklich bohren. Rückvergesellschaftung klingt noch nicht „smart“.

Immerhin besteht die Chance. Zwar hat man die Bahn zur Aktiengesellschaft umgebaut, doch der geplante Börsengang scheiterte am Finanzcrash von 2008. Und nun könnten die nächsten plötzlichen Polit-Turbulenzen zum Anlass werden, auch das mit der AG zu überdenken. Man nennt das Prinzip Serendipity – die plötzliche Krise als ungeahnte Chance.

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Geschrieben von

Velten Schäfer

Redakteur „Debatte“

Velten Schäfer studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Afrikanistik in Berlin und promovierte in Oldenburg mit einer sportsoziologischen Arbeit. Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland arbeitete er zunächst als freier Journalist. 2014 wurde er erst innenpolitischer und dann Wissenschaftsredakteur beim neuen deutschland. Anfang 2021 kam er zum Freitag, wo er sich seither im Debattenteil als Autor und Redakteur mit Fragen von Zeitgeist und Zeitgeschehen befasst.

Velten Schäfer

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