Mit dieser Ernennung ist es eben nicht dasselbe, als ob Herbert Grönemeyer in Deutschland zum Minister berufen würde. Aber mit Gemeinplätzen der europäischen und amerikanischen Presse zum Thema sollte man sich nicht lange aufhalten, nur soviel: die Vergleiche zwischen der Berufung Gils und der Amtszeit der griechischen Schauspielerin Melina Mercouri oder des nikaraguanischen Dichters Ernesto Cardenal in den achtziger Jahren hinken. Warum? Nicht allein deshalb, weil wir heute in der völlig neuen Situation kultureller Globalisierung leben, die wenig mit kulturpolitischen Konstellationen vor 20 Jahren gemein hat, sondern auch wegen der Person. Der Schlüssel für das Phänomen Gilberto Gil lautet Charisma - und das hat nichts mit charismatischen Führe
hrerqualitäten zu tun, weder im soziologischen Sinne eines Max Weber noch in einem christlich-religiösen, bezogen auf "göttliche Gaben" des Künstlers. Gils Charisma ist unmittelbar an ein sakrales (brasilianisches) Moment geknüpft, das mit Alltagserscheinungen korrespondiert, etwa der starken Präsenz afro-brasilianischer Kultur.Um noch auf ein Stereotyp des Feuilletons einzugehen, sei auf das Bild Brasiliens als "Land der Folklore" verwiesen. Es lohnt, dabei eine Kleinigkeit zu bedenken. In diesem Teil Südamerikas dominierte bis in das 20. Jahrhundert hinein die Sklaverei. Viele Sklaven stammten aus Nordafrika oder dem Kongo und waren ihren weißen Herren weit überlegen, was Wissen, Bildung, Sprach- und kulturelle Kompetenz anging. Das galt sowohl für die ersten Generationen weißer portugiesischer Kolonialherren, die fast ausnahmslos Analphabeten waren, als auch für die folgenden der Fazendeiros. Bei der Frage, wie sich Brasilien einst als Gesellschaft konstituierte, vor allem jedoch, was Brasilien heute ist, sollte diese Episode beachtet werden.In seiner Antrittsrede als Minister nannte sich Gil einen "Schwarzen-Mestizen", der nicht nur mit der Bewegung der Schwarzen sympathisiere, sondern daran aktiv beteiligt sei. "Niemand hier wird mich das Wort Folklore aussprechen hören. Die Bindungen zwischen dem erodierten Konzept der Folklore und kultureller Diskriminierung sind mehr als eng. Sie sind innig. Folklore ist all das, was sich - wegen seiner Antiquiertheit - nicht einpasst und im Panorama der Massenkultur von nicht-kultivierten Menschen - von primitiven Zeitgenossen - produziert wird, die als symbolische Enklave in einer Welt existieren, die heute als historisch überholt gilt. Für mich - gibt es keine Folklore, sondern nur Kultur."Gil hat über 30 Jahre politische Erfahrungen der verschiedensten Art gesammelt. Sicher hat ihn besonders das Exil zwischen 1969 und 1972 unter der Militärregierung (1964-1980) geprägt, aber ebenso wichtig war vielleicht die Gründung der Grünen Partei an der Seite von Intellektuellen wie Fernando Gabeira oder die Arbeit in der Stadtpolitik Salvador Bahias, als Sonderbeauftragter zu Fragen ethnischer Gleichberechtigung. Gewiss ist Gil kein Modernisierer, aber ein moderner, in internationalen Dimensionen denkender, empfindender und handelnder Mensch. In der bereits zitierten Rede meinte er: "Ich verstehe den Wunsch des Präsidenten Lula, mir das Ministeramt für Kultur zu geben, als praktische und symbolische Entscheidung, mit mir einen Mann aus dem Volk zu benennen. Einen, der sich für den Traum einer Generation engagiert hat, das Land zu verändern - einen Künstler, der aus den reichsten Böden unserer cultura popular kommt, der wie sein Volk nie aufgibt, sich den Herausforderungen und der Faszination des Neuen zu stellen."Gil wird gemeinhin als Tropicalist beschrieben. Die Definition der Tropicália als "Rock-Version" brasilianischer Folkmusik greift allerdings zu kurz, da sie das Entscheidende ausblendet. In der Tropicália, dem Kulturprojekt der sechziger Jahre (auch Film, Bildende Kunst und Literatur gehörten dazu) wurden nicht nur erschöpfte Dichotomien von Nationalem und Universellem überwunden - es wurde ganz selbstverständlich westliche Kultur übernommen und neu interpretiert. In einer Bewegung der "Dezentrierung" - geographisch, sprachlich und musikalisch - wurden London und die Beatles zum neuen Mittelpunkt Brasiliens erklärt. Caetano Veloso berichtet in seinem Buch Tropische Wahrheit (erschienen 1997) von einem Auftritt Gilberto Gils 1972 mit seiner Gruppe Die Mutanten: "Gils Vorstellung war reine Verzauberung. Die Mutanten kamen einem wie eine Erscheinung aus der Zukunft vor. Die Friktion zwischen dem afro-bahianischen Thema und dem Sound war überwältigend - Beatles und Berimbau (brasilianisches Kultinstrument - E.S.) oder Berimbau und Beatles, so dass dem Publikum der Atem stockte. Gil war ausgelassen fröhlich und extrovertiert wie immer bei Auftritten."Eine entscheidende Herausforderung für die neue Regierung, glaubt Gil, ergäbe sich aus dem weltweiten Interesse an Amazonien in puncto "Bio-Diversität" und an Brasiliens Kultur in puncto semiotischer "Diversität" (bezogen auf Zeichen und Codes). "Brasilien tritt im Kontext der Globalisierung als Sender neuer Nachrichten auf." Gil ist überzeugt, dass sein Land hier durchaus etwas zu lehren hätte.