Die Besatzer provozieren

Porträt Ahed Tamimi ist die jüngste Ikone des palästinensischen Widerstands
Ausgabe 01/2018

Ein israelisches Militärgericht hat am Montag Anklage gegen den Teenager erhoben und Aheds Untersuchungshaft um eine Woche verlängert. Ihr Zimmer hat sie unaufgeräumt hinterlassen, so, als würde sie jeden Augenblick wieder nach Hause kommen. Der Bücherstapel, der sich auf ihrem Schreibtisch türmt, die Kleider auf dem Stuhl, das Poster eines Fußballers an der Wand, all das ist noch so, wie es vor ihrer Verhaftung durch die israelische Armee in der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember war.

Das müde Gesicht der jungen Palästinenserin, die im israelischen Militärgericht in Ofer, Westjordanland, sitzt, ging im Internet um die Welt. Genau wie das einige Tage zuvor veröffentlichte Video, das zeigte, wie Ahed zusammen mit ihrer Cousine Nour Naji Tamimi zwei israelische Soldaten provozierte, die in den Garten ihres Hauses in Nabi Saleh im Norden von Ramallah eindringen wollten. Nach dem Zwischenfall waren Ahed, ihre Cousine sowie ihre Mutter verhaftet worden.

Die Inhaftierung der drei Palästinenserinnen im Hasharon-Gefängnis in Israel hätte am Montag, dem 1. Januar, zu Ende gehen sollen. Doch das israelische Militärgericht mit Sitz im Westjordanland erhob in zwölf Punkten Anklage gegen Ahed – weil sie am 15. Dezember einen israelischen Soldaten geschlagen haben soll sowie wegen fünf weiterer Vorfälle im vergangenen Jahr – und in fünf Punkten gegen ihre Mutter, Nariman Tamimi, deren Untersuchungshaft ebenfalls um eine Woche verlängert wurde.

Über die Freilassung von Ahed macht sich ihr Vater, Bassem Tamimi, keine Illusionen: „Meiner Erfahrung nach muss sie mit sechs bis acht Monaten Gefängnis rechnen“, schätzt der langjährige Aktivist. „Ahed wollte nie eine Ikone sein“, sagt er, „aber die Umstände haben dazu geführt, dass sie eine geworden ist. Widerstand ist hier keine Wahlmöglichkeit, sondern eine Pflicht.“

Ahed Tamimi, die 2001 als einzige Tochter unter vier Geschwistern geboren wurde, zählt zu einer Generation, die nie etwas anderes als die israelische Besatzung kennengelernt hat. In Nabi Saleh ist diese Besatzung Alltag: Die Straße, die das 600-Einwohner-Dorf mit Ramallah verbindet, führt auch zur israelischen Siedlung Halamish, die 1977 auf einem Privatgrundstück in palästinensischem Besitz gegründet wurde und heute 1.327 Bewohner zählt. Die beiden Dörfer, Nabi Saleh und die israelische Siedlung Halamish, stehen auf zwei benachbarten Hügeln.

Im Sommer 2008 beschlagnahmten die Siedler eine Wasserquelle zur alleinigen Nutzung, das empörte die palästinensischen Dorfbewohner. Seit dem Jahr 2009 protestieren die Familien von Nabi Saleh dagegen. Jeden Freitag wird eine friedliche Kundgebung abgehalten, um die Besatzung anzuprangern. Die Konfrontationen mit der israelischen Armee enden dagegen oft gewaltsam: Demonstranten werden verhaftet, andere verletzt.

Die Zusammenstöße zwischen den Jugendlichen an der Spitze des Protestmarsches und der israelischen Armee werden dabei stets von einigen Dorfbewohnern gefilmt. „Die Kamera ist Teil unseres Kampfes“, sagt Bassem Tamimi, „sie verhilft der Wahrheit zu ihrem Recht. Und die Verbreitung der Videos in den sozialen Netzwerken trägt dazu bei, dem verzerrten Bild der Lage entgegenzuwirken, das die konventionellen Medien vermitteln.“ Bald war es seine Frau Nariman, die ihre Tochter filmte, wenn sie als Rädelsführerin unter den jüngsten Demonstranten auftrat. Die Bilder des militanten Kindes, die von der Nachrichtenagentur ihres Onkels im Internet verbreiten werden, trafen einen Nerv.

Im Jahr 2012 zeigte ein Video, wie Ahed Tamimi israelischen Soldaten faustschüttelnd entgegentrat: Die Szene ging um die Welt und führte dazu, dass sie von Recep Tayyip Erdoğan, dem damaligen türkischen Premierminister, empfangen wurde. Drei Jahre später sah man sie, wie sie mit anderen Frauen gemeinsam versuchte, den Griff eines Soldaten zu lockern, der ein Kind mit eingegipstem Arm gegen einen Fels drückte: ihren kleinen Bruder Salam. Ahed Tamimi wurde damit zu einem der bekanntesten Gesichter des palästinensischen Widerstands in Nabi Saleh.

Ihre Heldentaten bestehen meist in herausfordernden Gesten gegenüber israelischen Soldaten, die diese manchmal ungerührt erdulden. Ihre Jugend, ihre Freiheit und ihr Stolz erregen Aufsehen, wogegen israelische Medien behaupten, Ahed werde von ihrer Familie manipuliert, um mit gestellten Provokationen vor laufender Kamera die Soldaten bis aufs Äußerste zu reizen. Umgekehrt bewundert die palästinensische Bevölkerung ihren Mut und identifiziert sich mit ihr.

„Viele Palästinenser fühlen sich von den Israelis gedemütigt, ohne jede Möglichkeit, dem etwas entgegenzusetzen. Wenn Ahed Tamimi einen Soldaten ohrfeigt oder sich ihm in den Weg stellt, sieht man sie als Heldin, weil sie etwas tut, was viele gerne tun würden, aber nicht wagen“, erklärt die palästinensische Psychotherapeutin Samah Jabr. Auf internationaler Ebene hat das Interesse an Aheds Fall bestimmt auch mit ihrem Aussehen zu tun, das landläufige Vorurteile konterkariert: eine Palästinenserin mit blauen Augen, heller Haut und blonden Korkenzieherlocken.

„Wäre Ahed dunkelhäutig und trüge ein Kopftuch, würde ihr Auftreten leichter mit dem Islamismus und damit dem Terrorismus in Verbindung gebracht werden“, meint Samah Jabr. „In diesem Fall würde man auch ihre Attitüde sogleich als gewalttätig lesen und nicht als heldenhaft, so wie es heute der Fall ist.“

Dieser Text ist unter dem Titel "Ahed Tamimi, figure familière de la résistance palestinienne En savoir plus sur" in Le Monde vom 1. Januar 2018 erschienen

Übersetzung: Pepe Egger

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden