Was am 7. Januar im Kapitol in Washington passiert ist, war ein ziemlich verzweifelter Versuch, den liberalen Verfassungsstaat auszuhebeln. Dass dieser Versuch gescheitert ist, spiegelt die gegenwärtige Phase der Entwicklung des dortigen Faschismus wider: Er ist in einem aufkeimenden, unausgegorenen, einem unfertigen Zustand.
Was wir in den letzten Jahren gesehen haben, sind sich vorwagende Versuche, experimentelle Vorstöße, die die kulturellen und organisatorischen Voraussetzungen für die Durchsetzung einer gewalttätigen, außerparlamentarischen Rechten schaffen.
Es braucht Zeit, um jene Koalitionen von Kräften innerhalb und außerhalb des Staates zu entwickeln, die dafür nötig sind, um Kulturen der Grausamkeit und der Gewalt zu normalisieren, um das Bekenntnis der liberalen Bourgeoisie zum Liberalismus zu untergraben, um die Linke zu demoralisieren und Minderheiten zu terrorisieren. Die US-Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass die unausgegorenen Energien des Trumpismus sich weiter ausbreiten. Zugleich ist klar, dass wir noch nicht einmal in der Nähe des Endpunkts dieses Phänomens sind.
Der bewaffnete Einbruch in das US-Kapitol, angestiftet von Trump und ergänzend zu den Bemühungen von Trump-freundlichen republikanischen Senatoren, das Wahlergebnis zu torpedieren, wäre ohne die Duldung der örtlichen Polizei nicht möglich gewesen. Jede andere Protestbewegung wäre zurückgeschlagen worden – und zwar brutal, mit maximal unverhältnismäßiger Gewalt. Dies ist derselbe Staat, der 1985 eine Bombe auf das Hauptquartier der Move-Kommune warf und 1993 Granaten auf das Waco-Gelände feuerte.
Eine Allianz zwischen der extremen Rechten, der Polizei und einer Fraktion der Exekutive
Am 6. Januar hingegen öffnete die Polizei des District of Columbia die Tore und erlaubte der bewaffneten extremen Rechten, in das Kapitol einzubrechen. Die Polizei sah zu, wie die extreme Rechte auf der Suche nach gewählten Politikerïnnen herumlief, um sie zu konfrontieren – und sie dann, ja was? Die Polizei ließ es zu, dass es zu einer tatsächlichen Schießerei kam, bei der sie schließlich einer Frau in den Hals schoss. Sie forderte Verstärkung durch die Nationalgarde an, woraufhin das Verteidigungsministerium Zeit schindete, indem man bekannt gab, die Frage „in Erwägung zu ziehen“. Erst nach fast tödlicher Gewalt wurde die Nationalgarde entsandt.
Das Pentagon untersteht dem amtierenden Sekretär Christopher Miller, nachdem sein Vorgänger, Mark Esper, am 9. November wegen seiner Opposition zu Trump abgesetzt wurde. Esper war unter den Ex-Pentagon-Beamten, die vor einem Putsch gewarnt hatten. Ich nehme an, dass das Pentagon aufgrund von Druck durch Trump so lange zögerte, damit seine Jungs erstmal die volle Bürgerbräuputsch-Experience durchziehen konnten.
Die Allianz zwischen der extremen Rechten, der Polizei und einer Fraktion der Exekutive wurde während Trumps Amtszeit immer wieder durch gewalttätige Straßenkämpfe gefestigt: während der Anti-Lockdown-Proteste, beim Vorgehn von Bürgerwehren gegen die Black Lives Matter-Proteste und während der Waldbrände in Oregon.
Die Dialektik zwischen Straßengewalt und autoritärem staatlichen Durchgreifen gegen die Feinde der Rechten war immer schon ein sichtbarer Teil von Trumps Strategie. Diese Dialektik der gegenseitigen Radikalisierung – die für den Faschismus in seiner Reifephase so entscheidend ist –, spielte eine entscheidende Rolle bei der Ausweitung seiner Basis in den Wahlen im November. Wohlgemerkt: Wären die Ergebnisse noch knapper ausgefallen, wären die jüngsten Proteste viel größer und gefährlicher. Ein entscheidender Grund, warum diese Kundgebungen Tausende und nicht Zehntausende versammeln, ist, dass das Ergebnis eindeutig genug war, um demoralisierend zu wirken.
Verschwörungstheoretischer Vigilantismus
Der Desperado-Putsch vom 6. Januar wird sich ebenso leicht eindämmen lassen wie Trumps zahlreiche rechtliche und politische Anfechtungen des Wahlergebnisses. Die Niederlage der Republikaner in den Senats-Nachwahlen in Georgia, die wahrscheinlich an derselben ideologischen Unnachgiebigkeit lag, die sie auch die nationalen Wahlen gekostet hat, wird zur Demoralisierung der Rechten beitragen. Demoralisierung ist demobilisierend. Doch die subkutane Wut, die Dolchstoßlegenden über angebliche „Wahlfälschung“ und die alternative Trump-Realität, die von vielen republikanischen Wählern geteilt wird, wird in den kommenden Jahren von einer ausgeklügelten rechtsextremen Disinfotainment-Industrie geschürt werden.
Diese wird vor allem anderen haptsächlich zwei Dinge hervorbringen: sogenannte Einzeltäter und verschwörungstheoretischen Vigilantismus. Letzterer – in seinen Erscheinungsformen von der Pizzagate-Verschwörungstheore zu jenem QAnon-Anhänger, der einen Gewerkschafter erschoss, von dem Nashville-5G-Bomber bis zu dem Apotheker, der absichtlich Impfstoffe sabotierte und sie dann auf der Basis von impfgegnerischen Verschwörungstheorien an Kunden lieferte, von dem Infowars-Hoax-Bomber bis zu den Oregon-Vigilantes und Anti-BLM-Milizen – hat eine lange amerikanische Tradition.
Wir haben es mit einem aufkeimenden, noch unfertigen Faschismus zu tun, mit einem Faschismus in seiner experimentellen Phase, in der sich eine Koalition aus kleinen politischen Randgruppen mit Elementen in der Exekutive und dem repressiven Flügel des Staates bildet.
Es wäre fatal zu glauben, der Faschismus könne in unserer Gesellschaft nicht Fuß fassen
Es wäre verheerend dumm und selbstgefällig, einfach davon auszugehen, dass die US-Demokratie in den kommenden Jahren schon ausreichend stabil bleiben wird, um diesem anhebenden Faschismus weitere Gelegenheiten zu verwehren, sich zu verfestigen und zu wachsen. Es wäre fatal zu glauben, dass die US-Bourgeoisie niemals den Faschismus unterstützen wird, weil die liberale Demokratie so genug funktioniert. Es wäre fatal zu glauben, dass der Faschismus in einer Gesellschaft, in der die Linke seit Jahrzehnten schwach ist und ein Großteil der Arbeiterbewegung kaum noch Puls hat, nicht Fuß fassen kann.
Der Faschismus wächst nie in erster Linie, weil sich die Kapitalistenklasse hinter ihn schart. Er wächst, weil er diejenigen um sich schart, die Clara Zetkin als „die politisch Heimatlosen, die sozial Entwurzelten, die Mittellosen und Desillusionierten“ beschrieb. Der aufkeimende Faschismus hat – von Indien bis zu den Philippinen – gezeigt, dass er keinen starken Kommunismus als Bedrohungsszenario braucht. Ernst Noltes Hypothese war falsch.
Es ist an der Zeit für eine antifaschistische Bewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Kommentare 18
https://www.freitag.de/autoren/magda/9-november-1923-ein-vorfahr-und-sein-putsch
Dies ist ein Blog. der schon einige Jahre alt ist. Damals habe ich die Familiengeschichte meines "unehelichen" Großvaters ein wenig erforscht. Der Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 gehörte zu den Ereignissen, bei denen Wilhelm Friedrich Loeper , der später Reichsstatthalter von Sachsen-Anhalt wurde, beteiligt war. Es sind durchaus interessante Aspekte zu finden, die auch bei den Ereignissen im Kapitol eine Rolle spielen könnten. Ich denke auch, dass da ein anderes Drehbuch zugrunde lag, das aber die Pläne am Ende nicht von Erfolg gekrönt waren. Gottseidank. Aber - nach dem missglückten Putsch in München - folgte 10 Jahre später die Machtübernahme.
Vielleicht ganz interessant.
Wie bereits die vergangenen muß auch dieser Faschismus keinesfalls ohne Kapitalseite auskommen. Ein prominenter Trump-Unterstützer ist der Mulitmilliardär und Hedgefond-Verwalter Robert Mercer. Die klassischen Geldgeber der US-Rechten, prominent hier die Koch-Brüder, tun dies zwar hauptsächlich wegen der Steuerfrei-Seite der rechten Agenda. Als Finanziers einer künftigen faschistischen Bewegung sind sie jedoch erste Adresse.
Und wer ist der Fuehrer? Donald Trump geht auf die Achtzig zu. Noch gut im Saft ist hingegen Josh Hawley – ein rechter Hardliner-Republican, der auch auf der auslösenden Kundgebung vorm Kapitol mit von der Partie war. Fazit: Alles dabei, was eine zünftige faschistische Bewegung ausmacht – Pechsteins und Krupps inklusive.
Ein Beitrag, der mir aus dem Herzen spricht. Und endlich spricht auch mal einer das F-Wort aus.
Zwei Aspekte fehlen mir : Der Verweis darauf, dass Trumps Faschismus-Projekt vor Jahren in der republikanischen Partei angestoßen und vorbereitet wurde, vorneweg Newt Gingrich ( "Political scientists have credited Gingrich with playing a key role in undermining democratic norms in the United States and hastening political polarization and partisanship.[7][8][9][10][11],........Gingrich supported Trump more quickly than many other establishment Republicans.[200] After having consulted for Donald Trump's 2016 campaign, Gingrich encouraged his fellow Republicans to unify behind Trump, who had by then become the presumptive Republican presidential nominee. Wikipedia).
Und mir fehlt vor allem ein gebührender Verweis auf die amerikanischen Wähler, die in der Lage waren, dieses Projekt einstweilen eindrucksvoll zu stoppen, gekrönt durch die prima Performance u.a. der afroamerikanischen Wähler in Georgia.
Ich liege wohl nicht falsch, wenn ich sage, dass wenige hierzulande im Vorfeld zu glauben wagten, dass Trump in Wahlen zu besiegen sei. Dass ein anlaufendes Faschismus-Projekt so eindrucksvoll in freien Wahlen gestoppt wurde, scheint mir eine Premiere zu sein. Und dass das System insgesamt den Attacken gegen dieses Wahlergebnis standhielt, lässt aufatmen. In Deutschland war das damals beschämend und katastrophal anders.
Zur Unterstützung durch das Kapital hat Richard Zietz schon etwas korrigiert. Von mir ergänzend: Donald Trump IST eine Verkörperung der hässlichsten Seiten des Kapitals.
Und ein letzter Verweis: Rupert Murdoch ist der neue Hugenberg, leider mächtiger und internationaler aufgestellt. Und die sogenannten sozialen Netzwerke sind das neue Medium, das dem Faschismus - solange ungebändigt - in die Hände spielt wie es der Rundfunk vormals in Deutschland tat.
Das Absurde ist, ich werde den Eindruck nicht los, Trump kann sich bis heute nicht vorstellen, er wird vom Volk abgewählt. Daher auch das irre Schauspiel. Der Vorteil ist, diese mangelnde Vorstellungskraft könnte dafür gesorgt haben, die demokratischen Strukturen blieben erhalten und es nutzte auch nichts, den Supreme Court mit beinharten Republikanern zu besetzen. Denen war die Verfassung der USA wohl doch wichtiger als der US-Präsident...
Es ist noch nicht vorbei. Netzquellen zufolge mobilisiert die White-Supremalist-Szene derzeit für einen »Million Militia March« in Washington. Zeitpunkt: 16. oder 20. Januar – abgestimmt auf Joe Bidens Inauguration.
Hier das Ganze in Deutsch in einem aktuellen heute-Bericht.
Diese Stümper können sehr wohl auch anders, wie das Oklahoma Bombing 1995 beweist. Und bei der Wahl der (Spreng)mittel können sie sehr kreativ sein: Ammoniumnitrat (Dünger), versetzt mit Holzspänen war es damals- was wird es heute sein? Oder morgen? Diese Freaks haben immer wieder Waffen aus Armeebeständen entwendet, auch und vor allem bei Kriegseinsätzen. Die losen Waffengesetze einiger Südstaaten lassen Kriegswaffen zu legalen Spielzeugen werden. Das ist dann etwas ganz anderes, als eine Bushmaster X15 Semi!
Ich kann mir aber eines nicht vorstellen: Die Sicherheitskräfte werden sich nicht erneut ein solches Debakel erlauben wollen. Für wahrscheinlich halte ich es, wir werden in diesem Jahr in den USA einige Terroranschläge erleben. Und hoffentlich eine Anwendung des von Trump eingeführten Gesetzes zur Beschädigung bzw. Zerstörung von Denkmälern. Darauf gibts auch interessante Strafen. 10 Jahre auf der Basis eines Trump-Gesetzes...
Bewaffnete konnte ich auf den Bildern nicht ausmachen. Lediglich mobilfunkgeräteschwingende Hände von Jamiroquais, Wacken-Gängern und Rotkäppchen waren für mich auszumachen. Die ganze Sache hatte schon was von Rock’n’Roll. Der Fachismus kommt mittlerweile ebenso von links. Und er ist nicht besser, nur weil er für die vermeintlich gute/richtige Sache ist. Das Problem ist nicht Donald Trump, sondern Joe Biden. Wäre Bernie Sanders gewählter neuer Präsident, hätte es diese Bilder vermutlich nicht gegeben. Aber statt den mutigen Weg zu gehen, einen Outlaw zu nominieren, der als Herausforderer ins Feld gezogen wäre, hat man wieder den alten Filz nominiert. Der Filz, der eben genau diesen politisch Heimatlosen, den sozial Entwurzelten, den Mittellosen und Desillusionierten noch nie eine Stimme gegeben hat und auch niemals geben wird. Dort wie hier und anderswo.
Mein Fokus ist mehr auf die Gegenwart gerichtet als mich in den wabernden Nebeln einer noch stattfindenden Zukunft zu verirren.
Dass mein politisches Herz für Bernie Sanders geschlagen hat - und schlägt - ist das Eine. Das Andere: eine Gewissheit, dass er in diesen Zeiten der Richtige wäre, haben wir nicht. Und werden wir auch nicht bekommen.
Im Text von Richard Symour las ich von "Dialektik", ohne dass davon viel zwischen den Zeilen zu spüren gewesen wäre.
Bei einer Reihe von Wortäußerungen diesseits und jenseits des Großen Teiches habe ich einen eher skurrilen Verdacht:
Stellt Euch vor, die Übernahme der Amtsgeschäfte durch Joe Biden fände geordnet und ohne großes TamTam statt: das muss doch für manch einen der absolute Super-Gau sein. Mit den ganzen apokalyptischen Szenarien NICHT Recht zu behalten, wäre dabei sicherlich noch das kleinste Problem.
Noch eines kurz hinterher:
Unter Dialektik verstehe ich NICHT das Allgegenwärtige Talk-Show "Entweder-Oder".
Trump - in Form und Inhalt - zu kritisieren, führt nicht automatisch dazu, jetzt alles gut und richtig zu finden, was Bidens Kabinett zukünftig veranstalten wird. Meine (politischen) Sehnsüchte und Träume sehen anders aus ...
Die vereinten transatlantischen Schwadelappen in diesen Breitengraden bringen sich gerade ebenso wortreich wie inhaltsleer in Stellung.
SELBSTERMÄCHTIGUNG muss Herzen und Hirn bei Jenen vernebeln. Da gilt offenbar der alte Filmtitel von Rainer Werner Fassbinder: "Angst essen Seele auf."
Ich mache mir Sorgen, daß Eva Herman im fernen Kanada die Ereignisse am Kapitol als Ermunterung auffasst.
Es ist an der Zeit für eine progressive Bewegung in den USA - und auch hierzulande.
"Antifaschistisch" muss diese naturgemäß auch sein, aber das sollte nicht der Markenkern sein. Jeder, der nicht komplett behämmert ist, ist doch sowieso gegen Faschismus. Man muss aber doch v.a. FÜR ein eigenes Programm eintreten!
"Antifaschismus" als Begriff ist total beliebig geworden, deswegen ist die deutsche Antifa auch von Transatlantikern durchsetzt, die dogmatisch gegen jede Kritik an den USA oder Israel sind.
Bernie Sanders, AOC und alle anderen Demokraten sind keine Hoffnung mehr. Sie sind zu sehr auf ihre eigene Karriere aus oder suchen den Konsens mit Leuten wie Nancy Pelosi, Joe Biden und Chuck Schumer - also mit Leuten, die fast genau so psychisch krank sind wie Trump.
Noch eine Wahl werden die Demokraten nicht gewinnen mit "back to normal" und "more of the same" als Programm. Egal gegen wen - sogar gegen Trump hat es ja erst dank Corona gerade so gereicht.
Trump hat ohnehin gewonnen, denn die Antwort des Establishmenst ist ja nicht mehr sondern weniger Demokratie.
Demokratie ist das schon lange nicht mehr. Zu viele Menschen sind von Wahlen ausgeschlossen und das Fundament (Presse, Sicherheit, Gesundheit, Justiz) ist marode und nicht mehr zeitgemäss. Man wähnte sich seit dem II Weltkrieg zu sicher gewähnt und zahlt dafür jetzt einen hohen Preis. Mit dem Empire Roms und Britanniens war es ähnlich. Wer sich um Demokratie nicht stetig wie der Gärtner um seine Pflanzen kümmert, muss damit rechnen, dass die Ernte ausfällt. Demokratie lebt von Beziehungen, Kontakten und Gesprächen. Seit dem Internet und den sozialen Medien ist die Sprachverirrung wie zu Zeiten des Turmbaus zu Babel. Denn sie wissen nicht was sie tun.
Im Moment erleben wir, daß die Demokraten aus Angst vor Trump das Militär und Apple und Facebook ermächtigen und sie sich damit selbst entmachten.
Der Donald wird wohl schon den Flieger nach Moskau klarmachen.
Trump sollte sich lieber ein paar Tipps von Viktor Orban geben lassen, wie man massenkompatibel manipuliert.