Die Chaoten in den Logen

Fußball Mit der Causa Hopp sieht sich eines der letzten säkularen Refugien des durchrationalisierten Alltags mit einem ungeordneten Werteumbruch konfrontiert: die Fankurve

Die aktuellen Geschehnisse in der Fuβballbundesliga irritieren, und das ganz unabhängig vom Lager, auf dessen Seite man sich selbst wähnt. Während in der Schweiz und in Teilen Italiens der Ball am vergangenen Wochenende gleich ganz ruhte, weil die Welt da draußen aus den Fugen geraten ist, spielten sich in den Fußballstadien von Berlin bis Sinsheim surreale Geschehnisse ab.

Die Polarisierung zwischen den kommerzialisierungskritischen Fans („Ultras“) in den Kurven und den vor allem ökonomisch denkenden Entscheidungsträgern in den Logen ist nicht neu – aber Spieler- und Schiedsrichterstreiks auf dem Platz als Protestform gegen Fanproteste? Das markiert in der Tat einen qualitativen Einschnitt, eine Verschiebung des Sagbaren und Denkbaren in der Binnensphäre Fussball. Spätestens seit vergangenem Wochenende ist unverkennbar, dass sich auch eines der letzten säkularen Refugien des durchrationalisierten Alltags, die Kurve des Fußballstadions, einem ungeordneten Werteumbruch konfrontiert sieht. Die Welt und die Fußballwelt stehen nun sprichwörtlich Seite an Seite Kopf. Beide befinden sich im Chaos.

Spielerproste gegen Fanproteste?

Nichts verdeutlicht dieses völlige Durcheinander so sehr wie die Tatsache, dass bisherige Bewertungsmaßstäbe versagen. Die Protestform des Boykotts ist nun auch ein Instrument derjenigen geworden, welche sich bisher eigentlich als das ökonomisch-rationale Gegenstück der „verrückten“ Fans in den Kurven verstanden haben, der zu allerlei Pöbeleien und Boykottaktionen bereiten „Chaoten“.

Eigentlich müsste spätestens jetzt über die grundlegende Plausibilität der Einordnung der beiden Lager nachgedacht werden. Stattdessen schreitet die blinde Polarisierung voran, etwa in Form pauschaler Gleichsetzung der Chaoten mit den Stehplatzbesuchern. Die weitere Eskalation ist damit vorprogrammiert, auch wenn die scharfen Waffen beider Lager zuletzt im Pokalwettbewerb zumindest vorübergehend schwiegen.

Wer ist hier fanatisch?

Insgesamt nimmt die Kriminalisierung des Fanverhaltens ungehindert hysterische Züge an. Werden bald jegliche Beleidigungen auf den Rängen strafrechtlich verfolgt und medial begleitet von verwirrten Bezügen zu realen Hassmorden? Im Ernst? Wer ist hier eigentlich fanatisch? Auch eilig nachgereichte Beschwichtigungsversuche der Deutsche Fußball Liga GmbH (DFL) vermögen es nicht mehr, die Sachlage zu entwirren. Die Fußballwelt hat sich neue Surrealitäten geschaffen.

Bei näherem Hinsehen wird klar: das beobachtete Chaos im Fußball und in der Welt geht einher mit einem Chaos in den Köpfen und den Diskursstrukturen. Es hat längst eine existenzielle Dimension erreicht, die uns alle betrifft. Befeuert wird es von den Chaoten auf den Rängen, die ihr eigenes Chaos (von griech. χάος) nicht mehr reflektieren und dadurch selbst an der weiteren Chaotisierung mitwirken. Das beinhaltet gerade auch diejenigen, die Kollektivaussperrung und Debattenabbruch predigen und als Entscheidungsträger unreflektiert weiter an der Demontage diskursiv gewachsener Realitäten und austarierter Ordnungs- und Wettbewerbsstrukturen mitarbeiten. Denn neben den oft an anderer Stelle thematisierten Chaoten in den Kurven gibt es sie auch – die einflussreichen Chaoten in den Logen. Beiden gilt es Einhalt zu gebieten.

Michael Heumann ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. Er lehrt und forscht zu Profitsport und Ethik. Privat ist Heumann bekennender Eishockey-Fan.

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