FREITAG: Sie sind sozusagen als Wiedervereinigungsexperte nach Nord- und Südkorea eingeladen worden. Haben Sie ihre Gesprächspartner vor einer Vereinigung gewarnt?
GREGOR GYSI: Nein, das war nicht mein Anliegen und wäre auch völlig sinnlos gewesen. Der Wunsch nach Wiedervereinigung ist sowohl im Norden als auch im Süden tief verankert und war immer offizielle Politik beider Seiten. Die nationale Frage nie aus der Hand gegeben zu haben, war im Übrigen auch einer der klügeren Politikansätze der Partei der Arbeit Nordkoreas, im Vergleich zur SED. Der Vorteil für sie heute ist, jetzt in diesem Prozess eine Rolle spielen zu können. Während es der SED - einschließlich ihrer Nachfolgepartei - sehr schwer fiel, irgendeine nennenswerte Rolle in einem Prozess zu spielen, den sie politisch über Jahrzehnte abgelehnt hat.
Welche Ihrer Erfahrungen war besonders gefragt?
Der Norden legt größten Wert darauf, dass man sich in seine Angelegenheiten nicht einmischt. Das hat zur Folge, dass es für Pjöngjang selbst schwierig ist, Fragen zu stellen, weil man das auch als eine Art Einmischung empfindet. Und weil es impliziert, dass man selber viele Fragen stellt. Ich habe mit dem nominellen Staatsoberhaupt - dem Parlamentspräsidenten Nordkoreas - vor allem über die Gründe für das Scheitern des Sozialismusmodells in der Sowjetunion und in Osteuropa unterhalten. Da gab es Gesprächsbedarf. Die nordkoreanische Seite besteht darauf, ein anderes Modell zu haben und deshalb nicht gescheitert zu sein.
Spielte bei den Gesprächen das chinesische Modell eine Rolle - gerade auch nach dem jüngsten Besuch Kim Jong Ils in Peking?
Die nordkoreanischen Gesprächspartner sagten uns, dass sowohl in China als auch in Vietnam ökonomisch kapitalistische Strukturen vorherrschten, während sie sozialistische eigener Prägung anstrebten. Kurz vor meiner Abfahrt gab es jedoch eine Äußerung von Kim Jong Il, in der zum ersten Mal die Worte vom "Neuen Denken" in einer "Neuen Zeit" auftauchten. Was darunter verstanden wird, ist jedoch bis jetzt nicht klar. Chinesische Politiker haben jedoch durchblicken lassen, dass Kim Jong Il die chinesische Entwicklung gewürdigt haben soll. In unseren Gesprächen vor Ort spielte das noch keine Rolle.
Haben Sie den Eindruck, dass Kim Jong Il der nordkoreanischen Führungselite vorangeprescht ist?
Uns haben sowohl chinesische als auch süd-koreanische Politiker erklärt, dass ihre Hoffnungen auf Kim Jong Il liegen, weil sie davon ausgehen, dass er die Öffnung des Landes wirklich will.
Also ein "Führer", der "führt"?
Ja, so problematisch dieses "Führerprinzip" für uns auch ist. Er scheint ein "Führer" zu sein, der eher Schwierigkeiten mit bestimmten Apparaten hat, die noch misstrauisch gegenüber Öffnungen sind, von denen niemand sagen kann, welche Ergebnisse sie einst haben könnten.
Was wollte man in Südkorea von Ihnen hören?
Hier wollte man vor allem wissen, wie der Normalisierungsprozess zwischen den beiden deutschen Staaten ablief und welche Veränderungen es dadurch in der DDR gegeben hat. Zum Beispiel: Wie wirkten sich Kredite aus? Entstanden Widersprüche zwischen Außen- und Innenpolitik? Wie hat die Bevölkerung worauf reagiert? Ich habe ihnen aus meiner Erfahrung gesagt, dass die DDR während der Isolierung wesentlich stabiler war als zu der Zeit, da die vielfältigen Kontakte zur Bundesrepublik bestanden und sich innenpolitische Verhältnisse unter den Bedingungen der Öffnung nach Westen viel stärker in Frage stellten als zuvor. Nordkorea braucht Hilfe, will Hilfe, und ich wüsste aus südkoreanischer Sicht nichts, was dagegen spräche, sie zu gewähren. Im Übrigen gibt es in Südkorea innenpolitische Kontroversen, die an die in der Bundesrepublik während der siebziger Jahre um die Brandtscher Ostpolitik erinnern. Die konservative Opposition unterstellt dem Präsidenten und Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung, seine Politik der Annäherung würde vor allem das Regime in Nordkorea stabilisieren. Außerdem gibt es inzwischen die Sorge, vor allem in der jüngeren Generation, dass der Wiedervereinigungsprozess einfach zu teuer wird. Und da wirkt das deutsche Beispiel aus südkoreanischer Sicht eher abschreckend. Insofern wurde ich auch nach meiner Kritik am Prozess der deutschen Einheit gefragt und danach, was man anders und besser machen könnte.
Hat man in Südkorea Angst vor einer Implosion des Nordens und will dem durch eine kontrollierte Wiedervereinigung zuvor kommen?
Das ist unausgesprochen da, aber ich glaube nicht, dass solch eine Implosion stattfinden wird.
Warum nicht?
Weil Nordkorea eine relativ geschlossene Gesellschaft ist, die durch die Art der Geschlossenheit strukturell heute keine Fähigkeit zur Implosion besitzt.
Ist die Leidensfähigkeit der Bevölkerung im Norden so groß?
Die Nordkoreaner gehen erstens davon aus, dass die dreijährige Periode der Entberungen vorbei sei, zweitens gab es, gerade was die Ernährungsfrage betrifft, ganz offensichtlich schon schlimmere Zeiten als heute und drittens ist man davon überzeugt, dass die Krise vor allem äußere Ursachen hat: den Zusammenbruch des Handels mit Osteuropa, das US-Embargo und Naturkatastrophen. Außerdem man baut darauf, dass dem Führer Lösungen einfallen. Das klingt natürlich für uns sehr fremd, wenn von "Kartoffelrevolution", "Saatgutrevolution" und "Welsrevolution" die Rede ist, mit denen man hofft, die Ernährungssituation zu verbessern, und sich das Ganze dann "Der Große Marsch der Roten Fahnen" nennt.
Gibt es für Nord- und Südkorea überhaupt die Chance einer partnerschaftlichen, paritätischen Annäherung und Vereinigung - anders als beispielsweise in Deutschland?
Wirtschaftlich sind die Gewichte natürlich höchst ungleich verteilt. Daran kann kein Zweifel bestehen. Doch es gibt einen anderen Aspekt: Alles, was für die koreanische Bevölkerung historisch von Nachteil war, der heiße Krieg, die diktatorische Erfahrung in Südkorea bis Anfang der neunziger Jahre hat heute sozusagen "den Vorteil", dass der Süden dem Norden nicht mit so einem wahnsinnigen Überlegenheitsgefühl gegenübertritt, wie das zwischen Deutschland West und Ost der Fall war und immer noch ist. Zum Beispiel weiß man in Südkorea ganz genau, dass eine Annäherung gegen den Willen der nordkoreanischen Eliten nicht zu machen ist. Die Regierungspartei von Kim Dae Jung ist sich daher - anders als die Opposition - bewusst, dass sie diese Eliten nicht verschrecken kann, sondern gewinnen muss. Insgesamt bleibt das Risiko für die nordkoreanische Führung jedoch größer.
Das Gespräch führte Torsten Wöhlert
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