Die deutsche Misere

Lockdown Das Theater galt in der Krise als relativ abgesichert. Die nicht festangestellten Schauspieler, die „freien Gäste“, schauen aber schon seit langem in die Röhre
Ausgabe 05/2021
Julischka Eichel in „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, 2016
Julischka Eichel in „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, 2016

Foto: Metodi Popow/Imago

Daran hatte nun wirklich kaum jemand gedacht. Noch in den herbstlichen Schließungsdiskussionen um den zweiten Kulturlockdown war meist unheilschwanger von der Gefahr eines einzigartigen Bedeutungsverlusts „des Theaters“ an sich, „der Kunst“ und „der Kultur“ die Rede gewesen. Doch während die Institution Theater eigentlich relativ abgesichert blieb, zwar geschlossen war, aber manisch weiterprobte und inszenierte, sodass jetzt viele Häuser einem sagenhaften sogenannten Rückstau von noch zu spielenden Premieren ins Auge blicken, die alle erst mal „auf Halde“ produziert wurden – traf es diejenigen mit voller Wucht, die vom Stadttheatersystem am Wenigsten profitieren: die nicht festangestellten Schauspielerinnen und Schauspieler, also die „freien Gäste“.

Das machte jetzt Ende Januar ein offener Brief der Schauspielerin Julischka Eichel auf nachtkritik.de deutlich, die an Kulturstaatsministerin Monika Grütters schrieb: „Die Novemberhilfen, die Dezemberhilfen, die Ersthilfen, die Neustarthilfen, alle gehen an uns vorbei.“

In dem Brief dröselt die Ernst-Busch-Absolventin und bisher an vielen großen Häusern freischaffende Schauspielerin der Kulturmillionen-Ministerin auf, in welcher misslichen Zwischenposition sich Schauspieler*innen befinden, die immer nur temporär als Gast am Theater unter Vertrag stehen. Das Ganze klingt kompliziert, sehr kompliziert, auch bei mehrfachem Lesen. Fest steht aber, dass freie Gäste weder als selbstständig gelten, womit sie Coronahilfenberechtigte wären, noch festangestellt sind, womit sie wenigstens ein festes Einkommen, wenn auch auf Kurzarbeitbasis, hätten. Julischka Eichel schreibt, sie sei verzweifelt. Sie schreibt, sie würde jetzt wieder bei ihren Eltern in Süddeutschland wohnen. Sie schreibt, die Ämter hätten keinen blassen Schimmer, wie sie sie verwaltungstechnisch einzuordnen hätten, würden sie aber dafür sicherheitshalber mit unrechtmäßigen Rückzahlungsforderungen von erhaltenem Arbeitslosengeld bombardieren.

Der Brief hat in der Theaterszene für Furore gesorgt. Laut nachtkritik.de wurde ein Artikel noch nie so oft geteilt und kommentiert wie dieser. Und tatsächlich wies der Hilferuf auf eine schmerzhafte Lücke in der bisherigen Aufmerksamkeitsökonomie in der Diskussion um die „Rettung der Kultur“ hin. Dass zwei Drittel aller Schauspieler*innen aus der prekären und unsicheren Freischaffenheit heraus für diese Theaterkultur ihre Haut zu Markte tragen, gerät immer wieder ins Vergessen. Die Bedingungen, zu denen wir als Publikum in den selbstverständlichen Genuss von Theater kommen, werden in der Dunkelheit belassen.

Andererseits hat das absichtsvolle Prekärhalten des fahrenden Volkes gerade in Deutschland seine lange Tradition. Mitte des 18. Jahrhunderts, also vor über 250 Jahren, öffneten die Fürsten ihre Hoftheater für Wandertruppen und nahmen sie als freie Gäste unter Vertrag. Um sich um die Belange des Theaters zu kümmern, setzten sie da erstmalig einen persönlichen Statthalter, einen sogenannten Intendanten, ein, der sich um Verträge, Kündigungen und Anstellungen kümmern sollte. Wer seinen Vertrag behalten wollte, durfte da nicht mucken. So hatten beide Seiten ihren Vorteil: Der Fürst konnte sich als Förderer der Künste einen aufgeklärten Anstrich verpassen und die spielende Zunft erkaufte sich ein höheres soziales Ansehen, leider zum Preis einer politischen Gefügigkeit. Diese unheilvolle Konstellation wurde schon damals von Zeitgenossen die „deutsche Misere“ genannt.

Eine Misere, die heute in den Debatten um feudalistische Führungskultur an den Theatern und unhaltbaren Arbeitsbedingungen noch immer nichts an Aktualität verloren hat. Man mag es kaum glauben.

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