Die Dinge waren gelaufen

VOM NEUEN DENKEN ZUR "NEUEN WELTORDNUNG" Erinnerungen an den Visionär Gorbatschow und die letzten Monate DDR-Außenpolitik

Aufgekratzte Heiterkeit herrscht in der Volkskammer in der Nacht vom 22. auf den 23. August. Frau Bergmann-Pohl, Präsidentin des "Hohen Hauses", lässt für ein Behinderten-Ferienlager sammeln. So nebenbei gibt sie den Rücktritt beziehungsweise die Entlassung von neun Ministern zur Kenntnis. Darunter ist auch "mein" Minister, Markus Meckel. Kein Wort des Dankes kommt aus dem Munde der Präsidentin, kein verbindliches Wort der Anerkennung. Danach das Ergebnis der Sammlung: Über 13.000 DM - hartes Westgeld.

Ministerpräsident de Maizière schlägt vor, doch darüber abzustimmen, dass die Volkskammer am 8. Oktober den Beitritt zur Bundesrepublik am 14. Oktober beschließen sollte. Ein etwas verqueres Verfahren: ein Beschluss über einen zukünftigen Beschluss! Da hat die - längst vergessene - Deutsche Soziale Union (DSU) die patriotisch sauberste Lösung parat: Beitritt hier und jetzt! Aufgeregte Beratungen. Auszeit über Auszeit. Dann wird der "Untergang der DDR zum 3. Oktober" beschlossen, wie Gregor Gysi treffend sagt - nebenbei der einzige, der sprachlich und inhaltlich ansatzweise dem historischen Augenblick gerecht wird. Seine Rede geht im hämischen Jubel und schnellen Aufbruch der Teilnehmer unter. Frau Bergmann-Pohl hölzert etwas von einem "wirklich historischen Ereignis". Verkehrsminister Gibtner, der gerade 50 Jahre alt geworden ist, erhält Blumen. Das "Geburtstagskind des Tages" bedankt sich für den Beitrittsbeschluss, das sei ein ganz persönliches Geschenk. Happy Birthday!

Alternative Außenpolitik...

Dies war das Ende eines Staates, den spät - aber immerhin - das Neue Denken gepackt hatte und der - wie das Land, aus dem es kam - seine Konsequenzen nicht überleben sollte. Michail Gorbatschow und Außenminister Eduard Schewardnadse waren angetreten, die Methoden, mit denen der Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus seit Ende des II. Weltkrieges ausgetragen wurde, zu zivilisieren. Nicht mehr Abschreckung und Rüstungswettläufe sollten die Ost-West-Beziehungen bestimmen, sondern ein friedlicher Wettbewerb der Ideen, freier Handel und Wirtschaftskooperation. Die Protagonisten dieses Wandels hofften, durch eine Abkehr von der bisherigen Politik, die "Bruderländer" im eigenen Machtbereich ganz ungeschwisterlich zu beherrschen, und den Warschauer Pakt auf eine neue, konsensfähige Grundlage zu stellen. Die Führung der Sow jetunion dürfte davon ausgegangen sein, dass sich die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts nicht gegen sie wenden würde.

Anfang Mai 1990 kam ich nach Ost-Berlin ins DDR-Außenministerium. Markus Meckel, neuer Minister aus der Ost-SPD, versammelte um sich ein Team von Mitstreitern, vor allem aus Westdeutschland, die er auf Treffen der Friedensbewegung in der DDR kennen gelernt hatte. Das gab ihm die Gewähr, nicht von den alten SED-Kadern im Ministerium abhängig zu sein. Die Überwindung der Blöcke und Militärbündnisse, aktive Abrüstungspolitik und demokratische Verhältnisse in Europa waren unsere Zielvorstellungen, die von Ideen aus der Friedensbewegung und Friedensforschung geprägt waren. Das Aufgehen der DDR in ein vereinigtes Deutschland sollte einer "Gesamteuropäischen Friedensordnung" kräftige Impulse geben. Unsere Vorstellung ging in die Richtung, der NATO eine sehr viel geringere Rolle in einem solchen Gefüge zuzuweisen und dafür die KSZE (heute: OSZE) als eine europäische Unterorganisation der UNO kräftig zu stärken. Dieser Ansatz war mit dem Neuen Denken vereinbar, auch wenn wir die von dessen Urhebern intendierte Vorstellung einer gestärkten Sowjetunion natürlich nicht teilten.

Die viel zitierte "Geschichte" ist über diese Ideen hinweg gegangen. Voraussetzung des "Neuen Denkens" war die Existenz der Sow jetunion als eines an Kooperation interessierten Gegengewichts zum Westen, als einer die USA und Westeuropa ausgleichenden Macht. - Im nachhinein ist mir klarer als damals, dass wir während der Arbeit in Ost-Berlin nicht nur den rapiden Zusammenbruch der DDR miterlebten, sondern auch den sich immer mehr beschleunigenden Zerfall der sowjetischen Macht. Mit beidem wurde Markus Meckel und seiner Politik schnell der Boden unter den Füßen weggezogen - und als wir es merkten, war daran nichts mehr zu ändern.

... ohne Bodenhaftung und...

Der stillose Ablauf der Volkskammersitzung, die den Beitritt beschloss, war Ausdruck politischer Substanzlosigkeit. Mit dieser DDR, wie sie sich dort präsentierte, war kein Staat mehr zu machen. Die Überstülpung der westdeutschen Parteienkonkurrenz und ein permanenter Wahlkampf für das erste gesamtdeutsche Parlament während des letzen halben Lebensjahres der DDR ließen keinen Zweifel, wer das Sagen hatte. Mögen die Ziele von Genscher und Meckel ursprünglich gar nicht so weit auseinander gelegen haben, so wurde doch schnell ersichtlich, dass eine eigenständige Rolle der DDR und damit eines SPD-Ministers von der Bonner CDU/FDP-Koalition nicht gewollt wurde. Die flugs gewendete Partei der "Blockflöten" unter Premier de Maizière und seinem Staatssekretär Günther Krause tat ein übriges, um ihren Part bei diesem Spiel zu übernehmen - sie trat mehr als Sprachrohr Bonns denn als eigenständige Kraft einer DDR-Außenpolitik auf. Hinzu kamen handwerkliche Fehler, die bei der Unerfahrenheit von Meckels Equipe nicht verwundern konnten.

Die DDR war kein Machtfaktor, Valentin Falin - halb Gefolgsmann, halb Gegner Gor batschows und Schewardnadses - brachte es im Juni 1990 auf den Punkt: Die DDR hatte mit der Übernahme der D-Mark ihre Souveränität aufgegeben. So setzte Moskau konsequent von Anfang an auf Bonn - hier waren die stärkeren Bataillone, hier saß das Geld. Eine durchaus realistische Sichtweise. Wir erfuhren sehr viel später als das Bonner Kanzleramt, dass die Moskauer Führung der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO keinen Widerstand mehr entgegensetzte. Unsere Kontakte liefen zum Beamtenapparat des sowjetischen Außenministeriums, das mehr an den alten Positionen zur Bündnisfrage festhielt und dann von Gor batschow und Schewardnadse mit der Kaukasus-Entscheidung vom 16. Juli 1990 überrumpelt wurde.

... von Gorbatschow im Stich gelassen

Aufgrund der fehlenden Kontakte - die Bonner informierten nicht, und aus Moskau kamen "hart bleiben"-Signale, die jedoch nicht die Position der Führungsspitze wiedergaben - tappte die DDR-Politik in eine Falle. Auf dem Pariser Treffen im Rahmen der 2+4-Verhandlungen am 17. Juli stand der DDR-Außenminister allein im Regen. Er hatte vehement den Standpunkt vertreten, die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens völkerrechtlich anzuerkennen, bevor die deutsche Einigung besiegelt werden sollte. Selbst die Sowjetunion unterstützte diese Position nicht mehr, und Polen blieb nichts anderes übrig, als zunächst nachzugeben.

Wir gingen von einem Vermittlungsbedarf zwischen der westlichen und der sowjetischen Position aus, bei dem wir Gute Dienste anbieten wollten. Die waren aber nicht gefragt. Letztlich knickte die Sowjetunion ein, auch ihre politische Substanz, um Außenpolitik zu betreiben, ging zusehends verloren. Gorbatschow stand das Wasser bis zum Hals, die Union zerfiel, er brauchte - koste es, was es wolle - westliche Kredite. Aus heutiger Sicht erscheinen das damalige Gerangel und die Auseinandersetzungen um einzelne Formulierungen im 2+4-Prozess zur völkerrechtlichen Regelung der deutschen Vereinigung als Aufgeregtheiten um wenig Wichtiges. Die Dinge waren entschieden.

Heute fühlt sich die NATO stark, auch wenn ihr Nimbus durch den Verlauf des Krieges mit Serbien gelitten hat. Die OSZE ist schwach, ihr wird von einem Konzert der Mächtigen, wozu die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland gehören, zwar eine wichtige Rolle im Sinne von Krisenprävention und Demokratisierung zugewiesen, aber die Dachorganisation der europäischen Sicherheit ist sie nicht.

Nun kann man sicherlich Zweifel haben, ob die OSZE in der Lage wäre, den Frieden in Europa zu garantieren, vor allem auf dem spannungsreichen und kriegsträchtigen Territorium der einstigen Sowjetunion. Sicher ist aber auch, dass es die NATO nicht kann, und ein Erfolg des Versuchs, im Kosovo mit militärischer Gewalt die Voraussetzungen für einen stabilen Frieden zu schaffen, lässt sehr auf sich warten.

Heute wird die Weltpolitik von den liberalen, kapitalistischen Demokratien bestimmt - untereinander sind sie friedlich und führen keine Kriege gegeneinander. Ein Neues Denken für das 21. Jahrhundert wird jedoch eine Politik entwerfen müssen, die diesen "demokratischen Frieden" erweitert und globalisiert.

Unser Autor arbeitet an der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main und war von Mai bis September 1990 im Beraterstab des damaligen DDR-Außenministers Markus Meckel.

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