Die drei Buchstaben einfach geklaut

Lafontaine und Beck im Vergleich Wer meint es gut mit der SPD?

Beck sagt, die SPD sei das Original. Lafontaine meint, Beck könne morgen Kanzler sein, wenn er sich von Hartz IV und der Rente mit 67 verabschiede, außerdem die Bundeswehr aus Afghanistan zurückziehe. Die SPD verliert in den Umfragen weiter, bleibt im Gerede, keiner meint es gut mit ihr - dieser Eindruck könnte entstehen. Vermutlich meinen es viele der Meinungsführer, von denen die SPD seit Jahren genutzt wird, um Gemeinheiten gegen das Volk durchzusetzen, noch viel zu gut mit ihr. Die SPD-Führung jedenfalls scheint nicht zur Besinnung kommen zu wollen. Erkennt sie die Gefahren wirklich nicht, die ihr in der jetzigen Konstellation drohen?

Dabei ist das Problem nicht vorzugsweise die neue Partei. Die Linke ist nur das Gefäß, in dem sich die verlassenen Wähler sammeln könnten, die von den Sozialdemokraten enttäuscht, abgestoßen oder mutwillig weggeschickt wurden. Ein Freund, Alt-Sozialdemokrat und einst Chef des Bundeskanzleramtes, hat diesen beklagenswerten Zustand der früher aktiven Mitglieder und Multiplikatoren der SPD einmal vortrefflich auf den Punkt gebracht: Du musst dich daran gewöhnen, meinte er im Blick auf die SPD seit Schröders Zeiten, dass da ein paar gekommen sind und uns die drei Buchstaben einfach geklaut haben. So ist es. Die jetzige SPD-Führung hat nahezu alle bewährten politischen Konzepte über Bord geworfen. Noch schlimmer, sie hat nichts durch neue eigene Ideen ersetzt. Das ist ihr Kernproblem. Deshalb auch sieht sie in der Konkurrenz mit der neuen Linken ziemlich unattraktiv aus.

Wenn Lafontaine die Systemfrage stellt, klingt das gut, aber was soll es heißen?

In den vergangenen zwei Wochen sind uns zwei Dokumente frei Haus geliefert worden, die diese Beobachtung einschlägig belegen: Zum einen ein Grundsatzbeitrag von Kurt Beck in der FAZ vom 11. Juni, den man getrost als Dokument der gesamten Parteispitze werten kann. Zum andern die Rede Oskar Lafontaines auf dem Gründungsparteitag der neuen Linken am 16. Juni, die zeigt, wie gefährlich diese Partei für die SPD sein kann, wenn die zu keiner Kurskorrektur der so genannten Reformpolitik bereit ist.

Lafontaine Auftritt war geprägt von sozialdemokratischem Geist, einigen guten Ideen und vom Geist des Grundgesetzes. Dort steht nämlich, wir sollten ein sozialer Staat sein. Deshalb ist die vom Parteichef der Linken geforderte Wiederherstellung der Sozialstaatlichkeit ein beachtliches Zeichen von Verfassungstreue, die man den anderen Parteien heute leider nicht mehr attestieren kann. Mit dem Gebot des Artikels 20 GG gehen sie inzwischen äußerst großzügig, wenn nicht gar feindselig um.

Lafontaines Rede war - anders, als von den Meinungsmachern in Publizistik und Politik dargestellt - auch nicht "weitgehend populistisch". Eher gab es Passagen, die ihm in der Öffentlichkeit noch zu schaffen machen werden. Etwa sein Bekenntnis zu Hugo Chávez, dessen Entscheidungen im Widerspruch zu der mit Recht hochgehaltenen Pressefreiheit stehen. Lafontaine hat nicht in Rechnung gestellt, dass bei uns nur wenige das Spiel durchschauen, das konservative Kreise über die Medien in Venezuela gegen den gewählten Präsidenten inszeniert haben.

Überraschend erschien der klare programmatische Akzent, den Oskar Lafontaine für die Linke bei der ökologischen Erneuerung setzte. Er behauptete, die Systemfrage werde durch die Umweltfrage gestellt - und die Linke sei die einzige Partei, von der die Systemfrage aufgeworfen werde. Diese Einlassung kann ich nur in der Annahme verstehen, dass es bei der Linken wie in ihrer Umgebung viele gern hören, wenn die Systemfrage gestellt wird. Das klingt gut, aber was soll es heißen? Will man den Markt ausschalten und das Privateigentum abschaffen? Dass die Bahn im öffentlichen Eigentum bleibt, die Energiewirtschaft wie auch andere Dienstleistungen der Daseinsvorsorge besser öffentlich als privat organisiert werden, lässt sich sofort einsehen, nur ist damit noch längst keine Systemfrage gestellt. Eine ökologisch vernünftige Politik verlangt ein stärkeres Engagement des Staates: mit Steuern und Abgaben, mit Geboten und Verboten muss dafür gesorgt werden, dass Markt und Wettbewerb in die richtige Richtung gelenkt werden. Das wissen Ökonomen seit Jahrzehnten, so wurde auch die Öko-Steuer begründet, so steht es im Steuerreformprogramm der SPD von 1971. Aber das ist keine Systemänderung - was also meint Lafontaine?

Doch davon abgesehen konnte seine Rede die Herzen der meisten verunsicherten SPD-Mitglieder und Sympathisanten höher schlagen lassen. Vom Gastbeitrag Kurt Becks für die FAZ vom 11. Juni (Das soziale Deutschland / s. auch Freitag 24/07) kann man das bei bestem Willen nicht behaupten. Da war nichts Eigenes, stattdessen eine Fülle von geliehenen Gedanken, Versatzstücken und Klischees. Den gängigen Behauptungen folgend war zum Beispiel von "einer kraftvollen Konjunktur des Jahres 2006 und 2007" die Rede.

Würde Beck nachdenken, sollte ihm auffallen, dass ein Wachstum zwischen zwei und drei Prozent nach einer langen Stagnation nicht gerade als "kraftvoll" zu bezeichnen ist. Bei vier Millionen registrierten und einer viel höheren Zahl von statistisch nicht erfassten Arbeitslosen von einer guten Konjunktur zu reden, ist Selbstbetrug. Hier liegt schon ein entscheidendes Defizit der derzeitigen SPD-Führung: nur erpicht darauf, die Diagnosen und Sprüche anderer, in der Regel der Wirtschaft und der neoliberalen Ideologen, zu übernehmen, die damit nichts anderes bezwecken, als einen Fortgang der "Reform"-Politik durchzusetzen.

Eine Partei, die im Wesentlichen wiedergibt, was von anderen in die Welt gesetzt wird, stellt sich als hilfloses Anhängsel von interessengeleiteten Parolen dar und wird nicht mehr als eigenständige Kraft wahrgenommen. Sie wirkt abstoßend auf die Wähler, die hinter den Parolen eine andere Wirklichkeit erleben.

Die Leistungen der SPD in ihrer immerhin schon 144-jährigen Geschichte kommen bei Beck nicht vor. Kein bisschen Stolz, er punktet nicht mit den Leistungen der SPD beim Ausbau von Sozialstaat und Bildungsgerechtigkeit in den sechziger und siebziger Jahren, offenbar weil inzwischen - nahezu einvernehmlich mit Konservativen und Neoliberalen - die einigermaßen verlässliche Sozialstaatlichkeit für einen Fehler gehalten wird.

Die SPD braucht keine neuen Visionen, sie braucht einfach wieder eigene Ideen

Es fehlt bei Beck jede Alternative zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die früher einmal von der SPD unter der Überschrift Globalsteuerung in die deutsche Politik eingeführt wurde. Eine solche Politik wäre gerade jetzt nötig, um den konjunkturellen Aufschwung zu stützen. Der SPD-Chef beklagt lieber, wir würden uns auf eine Gesellschaft hin bewegen, die nach dem Prinzip der Börse funktioniert. Warum so unehrlich? Wurden nicht die Weichen für einen solchen Kurs auch von seiner Partei gestellt? Es war der Kanzler in der Ära Rot-Grün, der die Auflösung der so genannten Deutschland AG propagierte. Gerhard Schröder hat, um den Wahnsinn des Verschleuderns und Fledderns vieler Unternehmen zu erleichtern, die so genannten Heuschrecken mit den entsprechenden Steuerbefreiungen versorgt. Weshalb verlangt Beck nicht, dass die Koalition beschließen möge, die Steuerbefreiung für Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen zurückzunehmen? Augenscheinlich erkennt er seine eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht. Oder will die SPD-Führung partout nichts tun gegen die Finanzindustrie?

Mehrfach bedient sich der SPD-Vorsitzende bei seinem FAZ-Auftritt der Formel vom "vorsorgenden Sozialstaat". Soll dieses "Markenzeichen" des neuen Grundsatzprogramms eine Idee sein? Mich hat überrascht, dass auch Beck diesen Begriff nutzt. Die Formel vom "vorsorgenden Sozialstaat" ist ein Konstrukt ohne Realitätsgehalt und enthält im Übrigen die oben schon erwähnte Kritik an der eigenen Geschichte. Bisherige sozialdemokratische Sozial- und Gesellschaftspolitik war über weite Strecken schon vorsorgend und nicht nur fürsorgend.

Ist die 1975 von der SPD erreichte Einführung des gleichen Kindergeldes statt der ungerechten Steuerfreibeträge ein Akt der Fürsorge gewesen? Sie hat die Familien finanziell fairer ausgestattet, um Kinder ernähren und groß ziehen zu können. Waren die Investitionen SPD-geführter Regierungen in Bund und Ländern zugunsten des Hochschulbaus und die Öffnung der Bildung für die Kinder aus Arbeitfamilien "fürsorgende" Akte? Waren die 1972 eingeführte flexible Altersgrenze und die in der großen Koalition 1968 beschlossene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter (nicht nur für Angestellte) Akte der Fürsorge? Wer als Sozialdemokrat das Konstrukt vom "vorsorgenden Sozialstaat" für die eigene Grundsatzprogrammdebatte aufrechterhält, der meint es nicht gut mit der SPD. Und der gewinnt die Konkurrenz mit der neuen Linken nicht. Die SPD braucht keine neuen Visionen, sie braucht einfach wieder eigene Ideen. Damit man erkennt, es handelt sich um eine eigenständig denkende politische Gruppe.

Der Autor war in den frühen achtziger Jahren Chef der Planungsabteilung des Kanzleramtes und ist heute Herausgeber der NachDenkSeiten.


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