Nach dem Neujahrsfest ist in Russland der Versuch einiger Duma-Abgeordneter gescheitert, protestierende Rentner als psychisch verwirrte Greise und halb verrückte Babuschkas hinzustellen. Diese Verleumdung endete in einem allgemeinen Aufruhr, besonders nachdem in Nowosibirsk ein Jeep ohne Kennzeichen eine 80-jährige Frau angefahren hatte, die mit Beinbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Die Behörden begriffen danach endlich, dass sie Menschen gegenüber standen, die sich in ihrer Verzweiflung auch unter ein Auto werfen können. Und die Gouverneure begannen, jene "Sozialreformen" zu revidieren, die auf eine für ältere Menschen völlig unbegreifliche Formel hinausliefen. Von "Monetisierung der Vergünstigungen" war die Rede, das bedeutete, bisher kostenlos gewährte Leistungen vom Theater-Besuch bis zur Fahrt in Bus und Metro sollten fortan bezahlt werden. Zur Kompensation war ein Rentenzuschlag in Aussicht gestellt.In den meisten Regionen allerdings wartete man vergeblich auf das versprochene Geld oder konnte sich davon überzeugen, dass es nicht reichte. 15 Gebiete Russlands gaben den Senioren daraufhin die gewohnten "Privilegien" in dieser oder jener Form zurück. Besonders weit ging der Gouverneur von Tscheljabinsk, der alle Vergünstigungen in vollem Umfang wieder zuließ.
Doch diesen Luxus, gänzlich auf die "Monetisierung" zu verzichten, können sich nur reiche Regionen leisten, die ärmeren warten noch ab, was Moskau entscheidet. Die Verantwortung auf das Zentrum abzuschieben, das beherrscht man in Russland bekanntlich ausgezeichnet. Nicht von ungefähr haben deshalb Oppositionsparteien wie die Union der Rechten Kräfte, Jabloko und die KP ihre Anhänger aufgerufen, bei Demonstrationen dem Präsidenten wegen seiner Reformen das Misstrauen auszusprechen.
Im Massenbewusstsein trägt Wladimir Putin zweifellos die Schuld. Mit seiner Wiederwahl im März 2004 waren Hoffnungen auf einen steigenden Lebensstandard verbunden. Putin selbst nutzte jeden Anlass, um über die niedrigen Einkommen der Bürger besorgt zu sein. Mitte vergangenen Jahres gab er öffentlich zu, für ihn sei die Armut "das schmerzhafteste Problem Russlands" Dies klang nach einer programmatischen Erklärung und wurde von der Mehrheit auch so verstanden. So nahmen die Rentner die "Monetisierung" zunächst noch gelassen, weil der Präsident unmittelbar vor dem Jahreswechsel Sozialminister Surabow empfangen hatte, der dem Staatschef vor laufenden Kameras versicherte, akute Einbußen für die Pensionäre werde es nicht geben.
Aus der neueren Geschichte Russlands stammt der Satz von Ex-Präsident Jelzin: "An allem ist Tschubais schuld!" Damals ging es um Lohn- und Rentenschulden, für die der ehemalige Privatisierungsminister verantwortlich sein sollte. Putin würde niemals sagen: "An allem ist Surabow schuld!"
Allerdings wäre es durchaus angebracht, den Präsidenten zu fragen, wie es dazu kommen konnte, dass die von ihm abgesegnete Reform gescheitert ist. Es erscheint müßig, eine solche Frage zu stellen. Jeder weiß, nicht allein der Kreml, auch die Duma ist dafür zuständig. Dieses Parlament, das ohne innere Opposition ein komfortables Dasein fristet, stempelt in letzter Zeit die Gesetze nur noch ab, um dem Präsidenten zu gefallen. Die bewussten Sozialreformen wurden in Plenum auf einem Niveau debattiert, das den Eindruck erweckte, man tausche sich über ein Gesetzeswerk zum Verbot des öffentlichen Biertrinkens aus.
Sobald die Unruhen auf den Straßen nicht mehr zu übersehen waren, bestand die erste Reaktion des Duma-Vorsitzenden Boris Gryslow - eines ehemaligen Innenministers - denn auch darin, den protestierenden Senioren mit harten Strafen zu drohen. Seine Stellvertreterin Ljubow Sliska war klüger - sie winkte Sozialminister Surabow mit seiner möglichen Entlassung. Als aber klar wurde, dass Surabows Kopf für die Straße zu wenig sein könnte, rief Dmitri Rogosin, der Chef der Präsidenten-Fraktion, auffallend schrill nach dem Rücktritt des gesamten Kabinetts.
Die Duma, die laut Verfassung die Hauptverantwortung für die von ihr verabschiedeten Gesetze trägt, will nicht ausgepeitscht werden und glaubt, die Antwort auf die Frage "Wer ist schuld?" zu kennen. Mehr noch: Sie glaubt, auch die Antwort auf die Frage des Schriftstellers Nikolaj Tschernyschewski zu kennen "Was tun?". Es könnte sein, dass sie wirklich weiß, was zu tun ist. Sie wartet nur noch auf ein Zeichen aus dem Kreml, ob es wieder möglich sein wird, nicht als Akklamationsorgan des Präsidenten, sondern als Parlament in Erscheinung zu treten.
Der Autor ist stellv. Chefredakteur von RIA Nowosti in Moskau.
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