Die erste totale Sonnenfinsternis ist aus dem Jahr 2136 v. Chr. überliefert: Die chinesischen Hof-Astronomen hatten es verpaßt, rechtzeitig auf das bevorstehende Himmelsereignis hinzuweisen. Als die Sonne sich verdunkelte, schrie deshalb die Menge auf den Straßen, schlug Trommeln und brannte Feuerwerke ab, um den Drachen zu vertreiben, der die Sonne zu verschlucken drohte. Die beiden Astronomen bezahlten das Versäumnis mit ihrem Leben.
Am 11. August wird sich die Sonne zum letzten Mal in diesem Jahrtausend verdunkeln - und zum ersten Mal in diesem Jahrhundert in Teilen Deutschlands. In Stuttgart zum Beispiel, das ein fünftägiges Sonnenfestival veranstaltet, beginnt die Verfinsterung um 12:32 Uhr und 55 Sekunden und dauert etwa zweieinhalb Minuten. Während
Sonnenfinsternis ist aus dem Jahr 2136 v. Chr. überliefert: Die chinesischen Hof-Astronomen hatten es verpaßt, rechtzeitig auf das bevorstehende Himmelsereignis hinzuweisen. Als die Sonne sich verdunkelte, schrie deshalb die Menge auf den Straßen, schlug Trommeln und brannte Feuerwerke ab, um den Drachen zu vertreiben, der die Sonne zu verschlucken drohte. Die beiden Astronomen bezahlten das Versäumnis mit ihrem Leben.Am 11. August wird sich die Sonne zum letzten Mal in diesem Jahrtausend verdunkeln - und zum ersten Mal in diesem Jahrhundert in Teilen Deutschlands. In Stuttgart zum Beispiel, das ein fünftägiges Sonnenfestival veranstaltet, beginnt die Verfinsterung um 12:32 Uhr und 55 Sekunden und dauert etwa zweieinhalb Minuten. WXX-replace-me-XXX228;hrend der Dunkelheit sollen alle Ampeln auf Rot geschaltet werden - der moderne Weg, Aufregungen und Unfälle zu vermeiden.Es ist das einzigartige Erlebnis im Moment der völligen Verdunkelung, das diese Aufmerksamkeit verdient. Doch wer glaubt heute noch an Drachen, die die Sonne verschlucken? Die totale Sonnenfinsternis zeigt, daß die Sonne am Ende des 20. Jahrhunderts in einem anderen Licht erscheint: Die Verfinsterung kündet nicht mehr vom endzeitlichen Weltgericht, sondern fügt sich in einen kontinuierlichen Geschichtsprozeß ein. Die Verfinsterung bedroht nicht mehr die Sonne als Symbol der Wahrheit, sondern begrenzt das Licht der Aufklärung, und der Sonnenverlauf ist nicht mehr das Maß unserer Welt, sondern ist zum Gegenmaß geworden.Die Finsternis als WeltgerichtSeit altersher lösten Sonnenfinsternisse Ängste aus. Die Sonnenreligionen Ägyptens und Persiens sahen in einer Finsternis das Abbrechen der ewigen Zyklen der Natur und einen Legitimationsverlust des Königs, dessen Pflicht es war, die Sonne davor zu schützen, von ihrer Bahn abzukommen. Juden und Christen hielten eine Verfinsterung ebenfalls für ein Zeichen des Endes der Geschichte, gewannen ihr jedoch eine positive Perspektive ab: in der Offenbarung des Johannes ist das Weltende kein bloßer Untergang mehr, sondern der Beginn der himmlischen Herrschaft. Die Sonnenfinsternis erhielt eine moralische Bedeutung, die darin lag, daß die Menschheit sich auf die Abrechnung am Jüngsten Tag vorbereiten sollte - denn Gott drohte den Ungerechten, daß er »die Sonne am Mittag untergehen und das Land am hellen Tag finster werden« (Amos 8,9) lasse.Als Antwort auf die Plötzlichkeit des Himmelsereignisses begannen die Menschen, Sonnenfinsternisse vorauszuberechnen. Schon im alten China, im antiken Babylonien, in Ägypten und Griechenland konnten die Umläufe der Himmelskörper genau genug berechnet werden, um sich auf ein Überschneiden von Mond- und Sonnenbahn vorbereiten zu können. Mit der Berechenbarkeit verlor die Verfinsterung den größten Teil ihres Schreckens. Die Sonnenfinsternis bezeichnet also, historisch gesehen, weniger das Ende als - im Sinne exakter Berechnung - den Beginn der Zeitrechnung.Doch Angst und Schrecken vor der Finsternis konnten nur überwunden werden, indem sie selber zum Prinzip der Zeitmessung wurde. Die frühen Berechnungen des Alters der Erde, der Natur und der Menschen bezogen sich - statt auf die Zyklen der Ewigkeit - auf die mythische Finsternis, die Ursuppe, das Chaos, das Nichts, die vor und hinter uns liegen, und auf die Zeit, die den Menschen dazwischen blieb. Als im 17. und 18. Jahrhundert die Geschichtsphilosophie erfunden wurde, stand wiederum das Ende am Anfang: erodierte Gesteinsschichtungen, Sternexplosionen, Fossilien ausgestorbener Lebewesen, Menschenknochen.Die Götter waren verschwunden. Doch die moderne Geschichtsschreibung setzte die religiöse Tradition in säkularisierter Form fort: Das Ende der Zeit zu berechnen hieß, eine Zeit des Endens zu verwenden. Die Geschichte ordnete, klassififzierte, vermaß, richtete - weiterhin im Dienst der Zukunft, auch wenn nicht mehr das Datum der Apokalypse abgezählt wurde. Kein Gott steht länger am Ende der Welt, sondern der Mensch urteilt selbst über die Zeit. Nicht mehr die totale Sonnenfinsternis kündigt das Gericht an, sondern die zu ihrer Beherrschung aufgebotene Zeitmessung urteilt kontinuierlich selbst.Das begrenzte Licht der AufklärungDas Licht, das uns heute scheint, ist nicht mehr das der Sonne, sondern das der Aufklärung. Erschreckend ist, darin liegt die Dialektik, weniger das Himmelsspektakel als die Präzision seiner Vorausberechnung. Totale Sonnenfinsternisse sind Gegenstand aufwendiger Fahndungen, langfristiger Beweisaufnahmen und amtlicher Protokolle. Die Finsternis am 11. August wird nur in einem 110 Kilometer schmalen Streifen entlang der Linie Cornwall - Stuttgart - München - Budapest - Iran - Indien für wenige Minuten zu sehen sein. Sie ereignet sich, weil der Mond in der Neumondphase steht und sein Abstand von der Erde - der sich verändert - nicht zu groß ist, um die ganze Sonnenscheibe abdecken zu können.Ort und Zeitpunkt von totalen Sonnenfinsternissen werden heute so genau vorausberechnet, daß sich eine eigene Tourismusbranche daraus entwickeln konnte. Neben dem Einsatz aufwendigster Beobachtungstechnologie stehen bei diesen Reisen jedoch der Expeditionscharakter, das gemeinschaftliche Erleben und die anschließende Feier im Vordergrund. Eine totale Sonnenfinsternis löst keine Massenpanik mehr aus, aber sie ist - trotz aller Naturwissenschaft - bis heute eine Ausnahmesituation geblieben, die die Menschen über den Kosmos staunen läßt und deren goldende Regel in der Ratgeberliteratur weiterhin »Keine Panik!« lautet.Der größte Teil der Sonnenstrahlen, die Ultraviolett- und Infrarotstrahlen, die Radiowellen, Röntgen- und Gammastrahlen dringen noch nicht einmal durch die Erdatmosphäre. Das gesamte Spektrallicht ist nur von Satelliten aufzufangen, die die Erde verlassen haben. Es konfrontiert uns mit den Zeit- und Raumdimensionen des kosmischen Rauschens: gleichbleibende Radiowellen aus allen Richtungen des Alls, die als Licht des Urknalls gelten, die sich aufgrund der großen Geschwindigkeit, mit der sie sich von uns entfernen, extrem verlangsamt haben. Zeit und Raum erhielten ein neues Ausmaß, das unsere Vorstellungskraft weit übersteigt. Unsere gewohnte lineare Geschichtszeit vom Alter der Erde, der Natur und des Menschen ist nicht mehr das letzte Wort. Die Sonne ist heute nicht mehr Symbol von Licht und Wahrheit, sondern Zeichen für die Begrenzung des Wissens im Licht der Menschen.Die Sonne als GegenmaßTraditionelles Symbol der Sonne ist der Spiegel, der das Licht unmittelbar und glänzend reflektiert. Spiegel sind nicht nur Attribute der Götter, sondern werfen den Blick auch auf uns selbst zurück. Die Sonne läßt sich niemals direkt beobachten, denn ihr Licht verbrennt die ungeschützten Linsen des Beobachters. Man benötigt einen Projektionsschirm, eine Abdunkelung - ein Abbild. Noch bis ins 20. Jahrhundert bot eine totale Sonnenfinsternis überhaupt die einzige Gelegenheit, die äußerste Schicht der Sonne, die Korona, zu untersuchen. Die Sonne verlangt die Verfinsterung zur Beobachtung, denn sonst verfinstert sie uns. Das Licht der Sonne verweigert sich dem Licht der Aufklärung und beendet den platonischen Weg aus der Schattenwelt der Abbilder ins Licht der reinen Ideen.Wie ein kühler Wind wird die Sonnenfinsternis am 11. August über uns hinweg ziehen. Das spektakuläre Naturereignis soll live im Fernsehen und auf Großbildschirmen übertragen werden. Gesendet wird auch bei Bewölkung - notfalls mit Satellitenaufnahmen. Vor dem Bildschirm wird niemand den kalten Lufzug spüren und das plötzliche Schlafengehen der Natur erleben. Tatsächlich wirkt eine Sonnenfinsternis merkwürdig altertümlich in einer Zeit, die sich von Sonnenlicht und Sonnenzeit, Sonnenkönigen und Sonnengöttern gelöst hat. Das Ende hat aufgehört, uns zu drohen, denn wir drohen mit ihm. Das Licht hat aufgehört, uns zu scheinen, denn wir leuchten mit ihm. Die Sonne hat aufgehört, uns zu erhellen, denn wir erhellen sie. Dennoch hat der Moment der Sonnenfinsternis seine numinöse Wirkung nicht verloren. Die Verfinsterung konfrontiert uns mit der Zeit des besonderen Augenblicks, die wir nicht messen können, die die Chronologie sprengt und sich selbst verzehrt. Die Sonne, das alte Maß der Zeit, ist zum Gegenmaß geworden.
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