Die Egozombies

Literatur Heike Leitschuh beklagt die Verrohung unserer Gesellschaft. Dabei ist ihr neues Buch mehr Sittenpredigt als Gesellschaftskritik
Ausgabe 51/2018
Sind wir zu narzisstisch geworden?
Sind wir zu narzisstisch geworden?

Foto: imago/Steinach

Die Gesellschaft verrohe, die Menschen würden immer egoistischer: So düster ist die Diagnose der Journalistin Heike Leitschuh. Unser Land sei bevölkert von „Egozombies“ und Selfie-Narzissten, die keinen Gedanken mehr an ihre Mitmenschen verschwendeten. Um diese These zu untermauern, breitet Leitschuh in ihrem Buch Ich zuerst! ein Panorama der Sittenlosigkeit aus. Überall griffen Verrohung und Egoismus um sich: vermüllte Innenstädte, bespuckte Polizisten – und Augenzeugen, die einen Unfall lieber mit dem Handy filmten, anstatt Hilfe zu holen. Das seien keine Einzelfälle, vielmehr stecke ein allgemeiner Wertewandel dahinter, der auf den Siegeszug des Neoliberalismus zurückzuführen sei. Das „neoliberale Virus“ habe „vielen bereits die Herzen vergiftet“, schreibt Leitschuh: „Alle stehen mit allen in Konkurrenz, jeder ist allein für sich verantwortlich, Solidarität für die Schwachen ist ein Auslaufmodell.“

Die Geschichte des Neoliberalismus als einen Verfall der Sitten zu erzählen, ist nicht unplausibel. Dass die Rohheit der Verhältnisse auf die Menschen durchschlägt, zu diesem Ergebnis kommen etwa auch die aufwendigen Mitte-Studien des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer. Heitmeyers „rohe Bürgerlichkeit“ bezeichnet jene Empathielosigkeit, die sich bei den neoliberalen Subjekten ausbreitet, deren Leben so sehr von Konkurrenz und Versagensangst geprägt ist, dass ihnen das emotionale Register abhandenkommt, mit dem sie nach Feierabend noch den Mitmenschen und Staatsbürger spielen sollen.

Es kommt allerdings darauf an, wo man Ursache und Wirkung verortet – und ob man bloß die Menschen oder die Verhältnisse aufs Korn nimmt. Leitschuhs Buch ist oft mehr Sittenpredigt als Gesellschaftskritik. Das zeigt sich an der Auswahl der Fallbeispiele. So werden zwar auch die Steuertricks der Reichen angeklagt, vor allem aber beklagt Leitschuh Verfehlungen gewöhnlicher Menschen. Bahnreisende, die mit ihrem Gepäck den Gang versperren, sind sicher unangenehm, aber sind sie auch ein Symptom des Neoliberalismus? Und wenn sie sich darüber erregt, dass junge Mütter ihre lärmenden Kinder mit in Cafés nehmen, möchte man ihr selbst zu etwas weniger Ich-Bezogenheit raten. Die Dauerirritation über das rüpelhafte Verhalten der anderen hat selbst etwas Narzisstisches – und gleitet gelegentlich in konservative Kulturkritik ab. Freiherr von Knigge zum Beispiel ist Leitschuh eine lobende Erwähnung wert, denn auch er habe schon über Respekt und Anstand nachgedacht. Für die wachsende soziale Kälte sei wohl nicht nur der Kapitalismus, sondern auch die Individualisierung mitverantwortlich, wenngleich „die aus emanzipatorischen Gründen ja durchaus positiv zu bewerten ist“. Spätestens hier drängt sich die Frage auf: Wann war denn diese gute alte Zeit, in der noch Anstand und Respekt herrschten? Galt die soziale Nestwärme der Nachkriegszeit auch für unverheiratete Mütter, Nicht-Deutsche oder Schwule?

Die Gegenmaßnahmen, die das Buch vorschlägt, bleiben vage. Politiker müssten wieder Visionen für eine solidarische Gesellschaft entwickeln, fordert Leitschuh. Vor allem aber müsse man „eine andere kulturelle Praxis einüben“, wie sie schon in Teilen der Gesellschaft aufscheint, in der Flüchtlingshilfe etwa, in urbanen Gemeinschaftsgärten oder dem ehrenamtlichen Engagement. Fraglich ist aber, ob die bloße Arbeit an der persönlichen Sittlichkeit nicht die Ursachen für die zunehmende soziale Kälte vergisst.

Info

Ich zuerst! Eine Gesellschaft auf dem Ego-Trip Heike Leitschuh Westend Verlag 2018, 256 S., 19 €

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