Haltet mich zurück!“ Der Ruf erinnert als Teil der politischen Folklore Israels zunächst einmal an die Kindheit. Ein Junge hat Streit mit einem anderen Jungen, tut so, als werde er ihn jeden Moment angreifen, und schreit den Zuschauern zu: „Haltet mich zurück oder ich werde ihn umbringen!“ Israel ist gerade in solcher Lage. Wir geben vor, im Begriff zu sein, Iran jeden Augenblick anzugreifen, und schreien der Welt zu: „Haltet uns zurück oder …“ Und die Welt hält uns tatsächlich zurück.
Es ist gefährlich, bei diesem Thema Prophezeiungen abzugeben, besonders wenn man es mit Leuten zu tun hat, die nicht alle besonders weise sind. Doch bin ich bereit, meinen Standpunkt aufrechtzuerhalten und zu sagen: Egal was geschieht, die Regierung Israels kann und wird ihre Luftwaffe nicht ausschicken, um Iran anzugreifen. Ich werde nicht weiter auf militärische Details eingehen und mutmaßen – ist unsere Luftwaffe überhaupt fähig, eine solche Operation durchzuziehen? – sondern konzentriere mich nur auf die Fragen: Ist es politisch denkbar? Was wären die Folgen?
Ben Gurions Irrtum
Eine Grundregel unserer Realität lautet: der Staat Israel kann keine groß angelegte Militäraktion ohne amerikanisches Einverständnis beginnen. Wir hängen von den USA in fast jeder Beziehung ab, aber nirgendwo so wie beim Militärpotenzial. Die Flugzeuge, mit denen eine Iran-Mission auszuführen wäre, wurden uns von den USA geliefert. Ihre Wirksamkeit hängt von ständiger Nachlieferung bei Ersatzteilen ab. Wir brauchten bei dieser Entfernung in den USA gebaute Tankflugzeuge.
1956 fing Israel ohne Zustimmung der Amerikaner den Suez-Krieg an. Premier Ben Gurion dachte, dass eine Verschwörung mit Großbritannien und Frankreich genügen würde. Er sollte sich schwer irren. 100 Stunden, nachdem er uns gesagt hatte, das dritte Königreich Israels sei erstanden, verkündete er mit gebrochener Stimme, dass er alle Gebiete räumen werde, die gerade erobert wurden. Präsident Eisenhower hatte zusammen mit seinem sowjetischen Kollegen ein Ultimatum gestellt – Ben Gurions Abenteuer war zu Ende.
Seitdem hat Israel keinen einzigen Feldzug mehr begonnen, ohne sich des Wohlwollens in Washington zu versichern. Kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg 1967 wurde ein Sonderbotschafter in die USA gesandt, um sicher zu sein, die Amerikaner sind einverstanden. Als er mit positiver Reaktion heimkehrte, wurde der Befehl zum Angriff gegeben.
Am Vorabend des ersten Libanon-Krieges 1982 eilte Verteidigungsminister Ariel Sharon nach Washington und traf sich mit Außenminister Alexander Haig, der zustimmte, aber nur unter der Bedingung, dass es eine klare Provokation gebe. Tage später war ein Attentatsversuch auf den israelischen Botschafter in London fällig – und der Krieg begann. Die Offensiven der israelischen Armee gegen Hisbollah im Zweiten Libanonkrieg 2006 und gegen Hamas im Gazastreifen 2009 (Operation Gegossenes Blei) waren möglich, weil sie Teil der amerikanischen Kampagne gegen den „radikalen Islam“ waren.
Dies könnte auch bei einem Angriff auf Iran der Fall sein, träfe aber nicht zu, weil ein solches Handeln eine politische und wirtschaftliche Katastrophe für die USA heraufbeschwören würde. Es genügt ein flüchtiger Blick auf die Karte, um deutlich zu machen, wie die unmittelbare Reaktion aussehen würde. Die Meerenge von Hormuz im Persischen Golf, den Tag für Tag Dutzende Öltanker passieren, wäre sofort blockiert. Die Folgen würden die internationale Ökonomie – von den USA über Europa bis China – allein durch die ausgelöste Preisexplosion – hart treffen. Länder, die gerade begonnen haben, sich von der Weltwirtschaftskrise zu erholen, würden in die Tiefen von Elend und Konkurs versinken.
Davon abgesehen würde ein israelischer Schlag gegen ein zentrales islamisches Land die gesamte islamische Welt zusammen schweißen, die arabische inklusive. Die USA, die sich unter Obama so darum bemüht haben, eine Koalition „moderater“ arabischer Länder gegen die Gruppe der „radikalen“ Staaten zu bilden, wären um den Lohn ihrer diplomatischen Offerten gebracht – kein arabischer Führer wäre in der Lage, daneben zu stehen, während die Massen seines Volkes sich zu tumultartigen Protesten versammeln.
Wenn das alles so ist, warum wird dann die Militäroption nicht vom Tisch genommen? Weil die USA und Israel daran interessiert sind, dass sie dort liegen bleibt. Die Amerikaner posieren gern mit ihrer Not, den wilden israelischen Rottweiler an der Leine zu halten. Dies hilft, Druck auf andere Mächte auszuüben, damit Sanktionen gegen Teheran nicht länger blockiert werden. Wenn ihr nicht damit einverstanden seid, könnte der wild gewordene Hund aufspringen und außer Kontrolle geraten. Denkt an die Konsequenzen!
Nur welche Sanktionen? Seit geraumer Zeit verfolgt dieses schreckliche Wort jeden auf der internationalen Bühne. Sanktionen sollten innerhalb der „nächsten Wochen“ auferlegt werden, doch wenn man fragt, was es damit auf sich hat, wird einem klar, dass eine Menge Rauch aufsteigt und nur ein sehr kleines Feuer brennt. Das Kommando der Revolutionären Garden Irans mag betroffen sein, ein marginaler Schaden der iranischen Wirtschaft entstehen. Die „lähmenden Sanktionen“ aber sind längst verschwunden, weil weder Russland noch China damit einverstanden sind.
Es gibt also wenig Chancen, dass diese Sanktionen die Herstellung der Bombe stoppen oder verlangsamen. Vom Standpunkt der Ayatollahs ist die nukleare Selbstermächtigung das Wichtigste für ihre nationale Verteidigung – nur ein Land mit atomaren Waffen ist immun gegen einen amerikanischen Angriff. In dieser Hinsicht hat die israelische Führung recht: Nichts würde Irans Bemühungen stoppen, die Bombe zu erwerben, abgesehen von einem massiven militärischen Coup. Die „Sanktionen“ sind Kinderspiel. Die Obama-Regierung spricht über sie dennoch mit großer Begeisterung, um die Tatsache zu vertuschen, dass sogar das mächtige Amerika nicht in der Lage ist, den Bau der iranischen Bombe zu verhindern. Wenn nun aber Netanyahu das Unvermögen der amerikanischen Führer kritisiert, gegen Teheran vorzugehen, antworten die ihm in gleicher Weise: Auch ihr nehmt das ja nicht wirklich ernst.
Tatsächlich hat unsere Regierung die israelische Öffentlichkeit davon überzeugt, dass dies eine Sache auf Leben und Tod sei. Der Iran werde von einem Wahnsinnigen geführt, einem kranken Antisemiten und obsessiven Holocaust-Leugner. Bekäme er Kernwaffen in die Hand, würde er keinen Moment zögern, sie auf Tel Aviv oder Dimona zu werfen. Solange dieses Schwert über unsern Köpfen schwebe, gäbe es keine Zeit für so triviale Dinge wie das palästinensische Problem und die Besatzung. Jeder, der unserer Regierung die palästinensische Frage vorträgt, wird sofort unterbrochen: Vergesst den Unsinn, lasst uns über die iranische Bombe reden !
Aber Obama und seine Leute drehen den Spieß um und sagen: Wenn dies eine existentielle Gefahr ist, dann zieht die Konsequenzen – dann opfert die Siedlungen in der Westbank. Akzeptiert das Friedensangebot der Arabischen Liga, einigt euch so schnell wie möglich mit den Palästinensern. Dann hat auch Iran für einen Krieg mit Israel keinen Vorwand mehr.
Wenn aber eine neue jüdische Siedlung in Ost-Jerusalem für euch wichtiger ist als die iranische Bombe, dann kann die Sache für euch nicht so kritisch sein.
Warum nicht ?
Gestern rief mich eine Korrespondentin von Israels beliebtem Fernsehkanal 2 an und fragte mit empörter Stimme:
„Stimmt es, dass Sie der iranischen Nachrichtenagentur ein Interview gaben?
„Das ist wahr. Die Agentur mailte mir ein paar Fragen, und ich antwortete.“
„Warum haben Sie das getan?“
„Warum nicht?“
Dies war das Ende unseres Gesprächs. In der Tat – warum nicht? Ahmadinedjad ist zwar ein abstoßender Führer, aber unser Verhältnis zu Iran hängt nicht von einer einzigen Person ab, egal wer es ist. Unsere Beziehungen gehen in alte Zeiten zurück und waren immer freundlich – bis in die Zeit von Ajatollah Khomeini hinein, den wir mit Waffen versorgten, als er ab 1980 gegen die Iraker kämpfte.
In Israel wird Iran heute als Karikatur dargestellt: ein primitives, verrücktes Land, auf nichts anderes bedacht als die Zerstörung des zionistischen Staates. Aber es genügt, ein paar gute Bücher über Iran zu lesen – ich empfehle William Polks Understanding Iran. Darin wird beschrieben, dass Persien eine der ältesten zivilisierten Regionen ist, aus der mehrere Weltreiche hervorgingen und die Bemerkenswertes zur menschlichen Kultur beigetragen hat. Irans wirkliche Herrscher, die Kleriker, bevorzugen eine vorsichtige Politik und haben nie einen anderen Staat angegriffen. Die Idee, sie würden ihr eigenes prächtiges Land opfern, um Israel zu zerstören, ist grotesk.
Die simple Wahrheit besteht darin: Wenn es keine Möglichkeit gibt, die Iraner daran zu hindern, eine Atombombe zu produzieren, wäre es besser, ernsthaft über die Regionalmacht Iran und ein Gleichgewicht nachzudenken, wie es zwischen Indien und Pakistan existiert – und einen Dialog darüber zu beginnen.
Die wichtigste Schlussfolgerung für Israel aber sollte sein: Frieden mit den Palästinensern zu schließen, um den Teppich unter dem iranischen Vorwand wegzuziehen, sie vor uns schützen zu müssen.
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs
Kommentare 5
Was nicht alles sein sollte und was ist? Es ist ein alter Hut, Iran ist nuetzlich.
Ahmadinedjad ist zwar ein abstoßender Führer
>>
Ahmadinedjad ist uebrigens ueberhaupt nicht abstossend. Geradezu eine typische Argumentation wie auch in: "Fighting terrorism with the fist in the back" oder so im Kommoedchen.
Und zum Thema
eine der ältesten zivilisierten Regionen
>>
auch das Buch Esra, wobei das Wort Region hier schon wieder eine vielleicht typische Unverschaemtheit ist. Bekanntlich wurden die Juden durch Cyrus aus der sogenannten babylonischen Gefangenschaft, da gab es Israel gar nicht, befreit und er war es auch, der sie nach einiger Zeit in Teheran oder wo auch immer, wo es noch heute die groesste Zahl von Synagogen ausserhalb von Israel gibt, nach Jerusalem schickte und aufforderte dort einen Tempel zu bauen. Wenn es nicht der liebe Gott war, der Cyrus diese Worte sprechen lies. Dass es auch dann dort vor 3000 Jahren noch keinen Staat Israel im heutigen Sinne gab, an den man heute nur anknuepfen muesste, nur am Rande. Des weiteren erinnert wir an die Iran Contra Affaire und wie die Mullahs im Aufttrag Reagans Carter verarschten, indem sie die Gefangenen noch ein paar Tage laenger behielten, diverse Waffendeals insbesondere die Iran/Contra Affaire. Daraus folgt auch, dass die Demokraten die Iraner besonders wenig megen.
Die Iraner waren im uebrigen immer friedlich, gleichzeitig aber immer sehr auf der Hut, mag ihnen das im Krieg gegen die USA und den Irak auch nicht viel geholfen haben. Das Seestueck mit Englaendern im Golf war aber wahrscheinlich die hervorragendste militaerische Leistung des 21. Jahrhunderts, wenn dieser Pokal nicht an Hezbollah und Hamas geht.
so runterspielen kann mans nicht.
das der iran einst und ggfs. auch gegenwärtig (wenn auch nur in den
diplomatischen träumereien einzelner) einer großen kulturgeschichte entstammt, ist unbstreitbar.
die panikmeldungen und irreführungen bzgl. kernwaffenpotentiale nehme ich (noch) nicht so ernst.
die massenkundgebungen und die bereitschaft vieler anhänger
ahmadinedjads nach hetzerischen aufrufen gegen den "westen" und ungläubige loszustürmen hingegen sehr.
ein ehemaliger kommilitone von mir, ein gebürtiger iraner, mußte als 17-jähriger mitansehen, wie seine familie und angehörige vor seinen augen auf bestialische weise von fanatischen anhängern k.`s massakriert wurden.
er kann nie wieder in sein land zurückkehren, obwohl er es immer noch liebt, sobald er an die schrecklichen geschehnisse denken muß, kommen ihm die tränen.