Voilà voilà heißt das neueste Tanzstück der vietnamesisch-französischen Choreographin Ea Sola, das seine Uraufführung im Berliner Hebbel-Theater hatte und nun in verschiedenen europäischen Städten gezeigt wird. Es ist die vorläufig letzte Choreographie in einer Serie, in der sie die traditionelle vietnamesische Musik, Poesie und das Theater erforscht, aufarbeitet und mit Elementen des modernen Tanzes vermischt. Die Choreographin beschreibt Voilà voilà als Synthese dieser zehnjährigen Arbeit, in der sie die entlegendsten Dörfer Vietnams bereist hat, um so viel Material wie möglich zusammenzutragen. »Voilà«, das Wort ist selbst eine Synthese. Es weist hin. Aber worauf?
Am Anfang ist die Bühne durch Stoff
t die Bühne durch Stoff in einen Palast verwandelt. Die mit grafischen Mustern versehenen Stoffbahnen erlauben ein ständiges spielerisches Verdecken und Sichtbarmachen der Tänzerinnen. Wie Handpuppen gehen diese manchmal; ihre Schritte klein und schnell gesetzt. Es wird auf Knien getanzt und in der Verbeugung. Eine Vereinzelung, ein sich dominantes Hervorheben von Tänzerinnen aus der Gruppe geschieht kaum.Dieser erste - in seiner Eingespieltheit durchaus auf Gesten der Hierarchie verweisende - Teil wird durch Bewegungen, die eher an das Repertoire martialischer Rhythmen wie Marschieren anklingen, aus der Harmonie gebracht. Die Stoffbahnen verschwinden - und damit das fragile Gebäude, das aber dennoch die Bewegungskoordinaten markiert hat. In dieser Phase des Tanzes wird plötzlich mit Fingern gezeigt. Wo vorher eine - wenn auch nicht durchschaubare - Ordnung war, ist plötzlich Chaos, dann Ratlosigkeit. Die Tänzerinnen kommen nicht mehr vom Fleck, sind wie besessen, können nicht mehr gerade stehen und tanzen dennoch. Allmählich jedoch entsteht aus der Unordnung eine neue Ordnung. Plötzlich erinnern die Bewegungen an die Hektik und Schnellebigkeit, die den Menschen in modernen Großstädten aufgezwungen wird. Ein Cello - Instrument, das heute auf die abendländische Kultur bezogen wird - nimmt die Musik auf, die bis dahin auf den traditionellen Perkussionsinstrumenten, zweisaitigen Drehleiern und dem Kem, einem Blasinstrument, gespielt wurden.Eine weitere Zäsur wird gesetzt, als sich sowohl Tänzerinnen als auch Musiker an den Bühnenrand begeben und eine Begegnung durchspielen, in die der Facettenreichtum menschlichen Verhaltens - Vorahnung, Lachen, Streit, Auseinandersetzung, Diskussion, Versöhnung - einbezogen ist. Als diese sich auflöst, kommen die Tänzerinnen nicht mehr in den an vornehme Traditionen erinnernden Kostümen, sondern in kürzeren Röcken und Blusen, wie sie als Kleidung von heute verstanden werden kann, auf die Bühne. Das Cello wird noch einmal eingesetzt, spielt Schumanns »Träumerei« und Bach. Die Tänzerinnen haben einen stilisierten Zweig in der Hand, eine größere Individualität der Bewegung ist sichtbar. Wenn sie jedoch aus der Gemeinschaft ausscheren, wirkt dies wie eine Warnung, wie Krankheit und manisches Vergessen im Nichtvergessenkönnen.Dem Stück liegen drei musikalische Traditionen des 11. und 13. Jahrhunderts zugrunde: Tuong, die Höfische, Chèo, die bäuerlich Naturverbundene und Ca Trù, die das Individuelle und die Einsamkeit betonende. Diese Traditionen bringt Ea Sola in Zusammenhang mit der langen Geschichte Vietnams, die für Jahrhunderte von Kolonisierung durch Chinesen oder Europäer, durch Feudalismus und Krieg bis in die jüngste Gegenwart gekennzeichnet ist. Das Dioxin in den Nahrungsmitteln, das auf den Einsatz der chemischen Waffen der USA zurückzuführen ist, macht die Leute bis heute krank. Verwegen wirkt diese Collage aus Geschichte und Kultur des Landes und dennoch konsequent.Ea Sola ist davon überzeugt, daß jemand, der heute in der sogenannten Moderne lebt, sich selbst zerstört, wenn er die Tradition aber auch die Geschichte vergißt. »Tradition ist Gedächtnis, ist Zivilisation, sind meine Eltern. Aber die Tradition, das bin auch ich. Wenn es mich nicht interessieren würde, käme das meinem Tod gleich. Die Moderne, das bin ich auch.« Ihr allerdings sind weniger die technischen Errungenschaften von heute wichtig, sondern eher modernes Denken, Konzepte, ästhetische und rhythmische Wahrnehmungen. Deren Verbindungen zur Tradition spürt sie nach. »Das Gedächtnis bezüglich Kunst und Kultur ist eine Sache, aber es gibt auch das Gedächtnis der Geschichte. Ich glaube, es gibt Menschen, die nie vergessen werden und nie vergessen können: Kriege, Massaker, die sie erlebt haben. Selbst wenn sie heute in einer modernen Welt leben.« Ohne Tradition - vor allem aber ohne mündlich überlieferte - hätte die vietnamesische Gemeinschaft den Krieg nicht überleben können. Dies liegt Ea Sola am Herzen.Ea Sola ist in der vietnamesischen Familie ihres Vaters in den Bergen im Süden des Landen aufgewachsen. 1978 kam sie nach abenteuerlicher Flucht mit ihrer französischen Mutter in Paris an. Wie ein Kleinod, das immer weitergereicht wird und dabei zum Verständnis dieser vielseitigen Künstlerin beitragen soll, wird immer wieder erzählt, wie sie nach ihrer Ankunft in Paris stunden- und tagelang unbeweglich in den Straßen stand. Warum? Was hat es ihr geben können? - »Nur die Tatsache, daß ich machen kann, was ich will«, sagt sie. Und die Bewegungslosigkeit, wofür steht diese? »Bewegungslosigkeit sagt nicht zwangsläufig, daß etwas bewegungslos ist.« Ihre ganz individuelle Reaktion auf den Krieg, die Flucht, den Kulturschock, die fremde Welt wurde von Theatermachern, die auf sie aufmerksam wurden, als Aktionskunst identifiziert. Auf diese Weise kam die Autodidaktion, die nur wenige Monate regulär eine Schule besucht hatte, mit Aktionstheater, Butoh, der Avantgarde in Frankreich in Kontakt.Die Bewegungslosigkeit ist nur ein Ausgangspunkt ihres Schaffens. Dramatische Gesten kamen hinzu. An ihren Haaren an einer Glocke aufgehängt, ließ sie sich in Schwingung versetzen, mit einem Eisblock tanzte sie. »Es ist ein Prozeß, der sich aus der Bewegungslosigkeit, die ja auch eine Logik der Sensation hatte, entwickelt hat.« In allem sucht Ea Sola das Andere. Nicht verwunderlich, wenn berücksichtigt wird, daß Vietnam und Frankreich ganz unterschiedliche Welten sind. Sprache, Denken, Wahrnehmen sind verschieden. »Es ist mir aufgefallen, daß ich manchmal auf Vietnamesisch anders denke als auf Französisch. Stellen Sie sich das vor, daß ich eine Meinung zu beispielsweise ÂDemokratie äußere. Auf Französisch bin ich einverstanden, denke: so ist Demokratie. Individuell vielleicht. Wenn ich auf Vietnamesisch darüber spreche, was Demokratie sein könnte, wird es plötzlich eher etwas, was sich an der Gemeinschaft und weniger am Individuum orientiert.«Seit zehn Jahren inszeniert Ea Sola immer wieder Stücke, die diese verschiedenen Möglichkeiten im Tanz sichtbar machen können. Vor vier Jahren begeisterte sie mit Sécheresse et pluie, Dürre und Regen, in dem sie 13 Bäuerinnen zwischen 50 und 76 Jahren, die bisher kaum in ihrem Leben ihre Dörfer verlassen hatten, auf die europäischen Bühnen brachte. Sie sangen ihre alten Lieder in einem neuen, von leidvollen Erfahrungen des Krieges geprägten Kontext. Il a été une fois, es war einmal, mit dem sie vor zwei Jahren in Europa war, ist ein Stück, in dem junge Menschen alle Variationen des Abschieds tanzen.Sensationslogik ist ein Stichwort, das Ea Sola an ihren Produktionen ad absurdum führt. Zwar haben ihre Stücke den zweifelhaften Bonus des Exotischen, aber es funktioniert nicht. Die vielstrapazierte Dichotomie von Tradition und Moderne löst sich auf. Zeitgenössisch ist Vieles. Daß sie beispielsweise authentische Musik verschiedener Traditionen miteinander in Verbindung bringt, gehört dazu. »Auch daß mit den traditionellen Instrumenten eine eigene Komposition und Choreographie entwickelt wird, eine Geschichte erfunden wird, sind zeitgenössische Aspekte. In Voilà voilà ist das deutlich.«Bleibt die Frage, was in Voilà voilà tatsächlich deutlich ist. Worauf weist es hin? Ich bin es nicht, die hinweist, sondern das Ding. Das Ding existiert bereits.« / Welches Ding? / »Das Leben.« / Das Leben zeigt auf? / »Ja, es zeigt, es zeigt auf.« / Die Vielfalt der Möglichkeiten? / »Oder die einzige Möglichkeit: das Leben.«Weitere Aufführungen: 22./23. Juni: Hammoniale Hamburg, 26. Juni: Ludwigsburger Schloßfestspiele
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