Die Engelmacherin

Zuerst verstand ich nicht, was sie von mir wollte. Eine Sekunde lang hielt ich sie für eine Figur aus dem Buch, über dem ich gerade eingenickt war. ...

Zuerst verstand ich nicht, was sie von mir wollte. Eine Sekunde lang hielt ich sie für eine Figur aus dem Buch, über dem ich gerade eingenickt war. Ein lauer Wind streichelte meinen Rücken, unten gluckste zufrieden der See, dazwischen lagen die warmen, rauen Planken des Badestegs. Hatte sie gesagt, sie fotografiere Engel? Die Kamera sah jedenfalls teuer aus. Ich versuchte einen Witz, meinte, obwohl es hier ja wirklich paradiesisch schön sei, seien Engel eher Mangelware, wenigstens am Tag. Ihre grüngrauen Augen lächelten knapp, sie hatte ein schmales, gebräuntes Gesicht, um das sich leicht gewellte Haare legten. Das habe sie sich schon gedacht, sagte sie, und vorgesorgt. Sie griff in ihre Umhängetasche und zog eine Bluse heraus. Sie war hauchdünn, auf den Schultern waren zwei Schaumstoff-Polster angenäht. Mit etwas Fantasie konnte man darin ein Flügelpaar sehen. Ich sollte das Ding anziehen, ins Wasser steigen und mich dort auf dem Rücken treiben lassen. Sie würde vom Steg aus Fotos machen. Ich willigte ein, vielleicht geschmeichelt, dass sie unter all den Leuten auf dem Steg ausgerechnet mich als Modell ausgewählt hatte.

Ich tauchte kurz ab, weil sie das Haar nass haben wollte. Kaum hatte ich mich in Pose gelegt, bekamen die Polster Auftrieb und dümpelten irgendwo auf Ohrenhöhe - das ergab vermutlich alles andere, nur keinen Engel-Effekt. Ich schwamm zurück, sie fummelte an den Polstern herum. Nachdem es auch beim zweiten Mal nicht geklappt hatte, ging sie selbst ins Wasser und ich hielt die Kamera. Schließlich kletterte sie vergnügt wieder auf den Steg: Dann probieren wir´s eben hier oben. Sie postierte mich neben einem der faul aufragenden Stützpfähle, zupfte die Flügel zurecht und mir eine Strähne aus der Stirn. Angestrengt vermied ich ihre Augen, schielte auf die Schläfen, den konzentrierten Mund. Während sie fotografierte, korrigierte sie durch Zuruf die Kopfhaltung, dirigierte meinen Blick abwechselnd auf die schillernde Wasserfläche, in Richtung Yachthafen oder knapp an ihrem linken Ohr vorbei. Einige Leute beobachteten uns interessiert bis skeptisch. Machten wir uns verdächtig oder nur ein bisschen lächerlich? Egal, so lange meine verwaschenen Badeshorts nicht mit aufs Bild kamen.

Abwarten, erwiderte sie auf die Frage, ob die Bilder wohl etwas geworden seien. Falls es für eine Ausstellung reiche, würde sie Bescheid geben. Ihr Projekt trug den Arbeitstitel "Engel. Blues", "Blues, Bluse, you see?". Sie reiste quer durchs Land und steckte alle möglichen Menschen in diesen Stofffetzen. Die Idee dahinter war ... könnte so was Ähnliches wie Sakralisierung oder Mystifizierung des Alltäglichen gewesen sein, ich hab´s vergessen. Sie ritt auch gar nicht darauf herum, sondern wollte wissen, was ich denn so mache. Genau, sie sagte: "Und wofür lebst du?" Das gefiel mir irgendwie, denn natürlich hatte ich keine Antwort parat.

Sie war zum ersten Mal in der Stadt und ich bot mich als Fremdenführer an. Wir schlenderten durch die leerer werdenden Straßen, sie erzählte von ihrem Künstler-Kiez, von den Reisen, die sie unternahm, wenn es ihr zu eng wurde, wenn die Inspiration nachzulassen begann. Gegen zehn ging ihr Zug, am Bahnsteig tauschten wir Adressen aus, wegen der Fotos. Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle wurde ich von zwei Grenzschutzbeamten misstrauisch gemustert. In Gedanken versah ich ihre breiten Schultern mit Schaumstoff-Flügeln - und schenkte den beiden ein verklärtes Lächeln.

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