Die Entschuldigung

Kehrseite Marx-Engels-Platz. Als Kind aus der Provinz glaubte ich lange Zeit, in der S-Bahn gäbe es etwas zu essen. Die Enttäuschung während meiner ersten ...

Marx-Engels-Platz. Als Kind aus der Provinz glaubte ich lange Zeit, in der S-Bahn gäbe es etwas zu essen. Die Enttäuschung während meiner ersten Fahrt hielt sich in Grenzen. Die Mauer war interessanter. Dreißig Jahre später isst man in der S-Bahn bestenfalls aus Brotbüchsen und Kiosktüten, und interessanter sind weder Mauerwerke noch die Leute von heute: Händler, Pendler, Rentner, Ausgegliederte aus Berlins neuer Mitte. Noch Vorfahrer Mickel hatte vor Zeiten Volksweisen entziffert. Aus: "Der Raum vor der Führerstandtür ist freizuhalten" kratzen sie damals "Der Führer ist zu alt". Wortklabautereien, die aussterben. Fetziges Sprachzerfetzen mündet jetzo in Werbung, Karriere- und Einsteige-Tipps.

Alexanderplatz. Ein Verstiegener stieg zu. Eins siebzig, bombige Jacke, springende Doc-Martens-Stiefel, Käseschenkel, weiße Senkel - eine eingewachsene Glatze in Effekt-Effekten, die dumpfdröhnig und keineswegs maulfaul grölte: "SS - Leibstandarte Adolf Hitler". Die Glatze wiederholte sich. Ihre alkoholische Leibstandarte zog zügellos durchs Abteil. Das fahrige Volk ging in Deckung: Zwei alte Damen drückten sich in ihre Sitzecken, lunschten hektisch abwechselnd ins zerschürfte Fensterglas, zur unerreichbaren Bremse, bis sich ihre grauen Häupter langsam senkten. Ein serviler Herr stellte seinen Koffer als Schild auf die Knie und tat, als ob er schliefe. Ein Pärchen knutschte. Allein zwei Sportliche amüsierte das Treiben. Mich hielt der Haltegriffel im Griff. "Turbulenz im Turbo-Lenz" reimte ich schnell und unbeholfen, da dem, der einen Sitzen hatte, die Stille im Zug in die Bahn warf. Er sprang plötzlich behende gegen eine Rückenlehne und brabbelte erneut seine Sentenz-Essenz. "Nu gib endlich Ruhe, Junge" raunte ein Männlicher auf den Hinterbänken. Der Alkohohle schrie "Wer war das", zurück und tigerte forschenden Auges durch die Menge.

Jannowitzbrücke. Ängstliche türmten in Sicherheit, blieben zurück. Die Gängelei im Gang hätte seinen Fortgang genommen, wären zwei Unterbrückenschläfer nicht hinzugeraten. Pat und Paterchon, der eine zwei Meter mit breiter Brust, der andere noch kleiner als die Glatze, gedrungener. Als beide die hohlen Parolen hörten, zur SS-Litanei gesellte sich nun auch "Judensau", mischten sie die Szene auf. Vorerst ohne Gewalt, ganz subtil. Der Kleine führte das Wort: "Du hast zu ihm Judensau gesagt, du wirst dich sofort bei ihm entschuldigen." Ich wurde blass und rot zugleich, denn der Kleine zeigte auf mich. Ich war die beleidigte Judensau. Wir waren gleichsam verdutzt, die Glatze und ich. Durch meinen Kopf rasten die Raster. Beschnitten? Nee! Fliehende Stirn? Hakennase? Geld? - Fehlanzeige! Ich - ein Jude, womöglich der ewige, der Weltjude? - Nur mein dunkler Schopf entsprach dem Jud-Wut-Klischee. Der Kleine forderte ein zweites Mal eine Entschuldigung, doch die Glatzenfratze grinste frech und bleckte den stinkenden Finger. Das verlangte Satisfaktion von der Ratzenfraktion. Der Hüne schob sich nach vorn. Noch vor dem Zupacken und wahrscheinlichem Zerquetschen, zerrte der kleine den großen Penner ins zittrige Glied der Reisenden, um ihm den Zweikampf abzuringen. Fahrende bleiben fair und Gewichtsklassen wichtig. So zog der Quirlige seine Joppe aus und warf sie der einen, noch harrenden Alten über. Die Knirpse knäulten sich, fuhren aneinander, kampelten und knietschen, zottelten einander am Schlafittchen, wankten und zankten, bis sich die zwei Trainierten ihrer erbarmten und sie an den Armen auseinander nahmen.

Ostbahnhof. Die Gemüter wurden mutloser und ruhiger. Nur der Kleine gab nicht klein bei, pochte noch im Zugriff strammer Oberarme auf eine Entschuldigung, die musste sein. Schon allein der Fairness wegen fanden die Referees einen muskellösenden Ausweg. Sie führten den Standartennazi zu mir. Abartig artig schüttelte er meine Hand, murmelte das womöglich tatsächlich friedlich stimmende Wort. Aufatmen beim Anhalten.

Warschauer Straße. Aussteigerstation. Ich verließ mit einem der Retter die Bahn, spendierte dem Beherzten eine herzhafte Bratwurst, die wir genüsslich am S-Bahnhof aßen.

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