Die Entzeitlichung des Krieges

RAUM UND BESCHLEUNIGUNG Eliminierung der Geographie und der Vorwarnzeit

Revolutionskriege
Erst mit der Moderne und im eigentlichen mit den revolutionären Bewegungen des Bürgertums beginnt die neuere Kriegsgeschichte. Der Absolutismus folgte, aus finanziellen und machtökonomischen Gründen, dem, was der bedeutendste Philosoph des Krieges, Carl von Clausewitz, den »begrenzten Krieg« nennt. Die Mittel der Kriegführung waren bescheiden, die Heere klein und kostenintensiv, die Marschleistungen gering. Den eingeschränkten Mitteln entsprachen begrenzte Kriege um begrenzte Ziele.

Mit den napoleonischen Revolutionsheeren nähert sich der Krieg der von Clausewitz so genannten »absoluten Gestalt«. Mit der Einbeziehung großer Teile der männlichen Bevölkerung in die kriegerische Auseinandersetzung erreicht die Destruktivkraft in Verbindung mit der technologischen Entwicklung der Waffen und Kommunikationsmittel eine - insbesondere auf der Ebene der Zeitökonomie - qualitativ neue Dimension.

Die bis dorthin geltende militärische Planung war von einer Ökonomie des Raumes diktiert: der Zeiteinsatz war durch die geographische Ausdehnung und die topographische Beschaffenheit des Geländes bestimmt. Ein derartiges Raum-Zeit-Dispositiv ordnet Paul Virilio dem Zeitalter metabolischer Geschwindigkeit zu, in dem die Bremskräfte, die räumlichen Hindernisse, dominieren. Mit der industriellen Revolution, die Virilio als »dromokratische Revolution» bezeichnet, erfindet man nicht nur Mittel, um massenhaft zu produzieren, sondern vor allem Mittel, um Geschwindigkeit herzustellen: zunächst die Dampfmaschine, dann den Verbrennungsmotor.

Neu an den Revolutionsarmeen war die Geschwindigkeit, mit der sie vorgingen. Sie bewegten sich schneller als die traditionelle Raum-Zeit-Kalkulation erwarten ließ. Der Topos der Beschleunigung rückte zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr ins Zentrum militärischen Denkens. Aber es war vor allem der gewandelte disziplinarische Zusammenhang der Armeen, der ihre überlegene Geschwindigkeit ermöglichte: dieser Strukturwandel führte zu einer übermäßigen Entwicklung der kinetischen Energie der revolutionären Masse.

Weltkriege
Die Entwicklung von Maschinenwaffen erweitert den Bereich der Todeszone. Der Raum löst sich dabei immer mehr auf und wird durch Zeiteinheiten ersetzt. Die Chronographie ersetzt die Geographie. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts und dann im deutsch-französischen Krieg 1870/71 hatte die preußische Regierung erfolgreich den strategischen Ausbau der Eisenbahnen forciert, um möglichst schnell an jedem beliebigen Punkt der Front sein zu können. 1859 waren für einen Aufmarsch gegen Frankreich noch sechs Wochen geplant, 1870 konnten die Mobilmachung und der Aufmarsch des Heeres in der Hälfte der Zeit organisiert werden.

Zwar wurden alle führenden Militärs im Ersten Weltkrieg von der Wirkung der Maschinenwaffen überrascht, was, wie bekannt, zum jahrelangen Stellungskrieg führte, dennoch wurden die maßgeblichen technischen Entwicklungen für die Überwindung des Raumes und die Minimierung der Zeit bereits in Ansätzen im Ersten Weltkrieg entwickelt: der Panzer, der aus dem alten linearen Verlauf von Straßen und Eisenbahnen ausbricht, das Flugzeug, das keine von der Geographie des Bodens erzeugten räumlichen Hindernisse mehr kennt und der Rundfunk, der nun wirklich jede räumliche und vor allem nationalstaatliche Grenze überschreitet. Das damit in Ansätzen bereits im Ersten Weltkrieg erreichte Kriegssniveau bestimmte schließlich die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in doppelter Weise: einmal im taktisch-operativen Bereich durch Panzer und Flugzeug in Kombination mit UKW-Sprechfunk und zum zweiten auf einem durch den Rundfunk, also Radio, gesteuerten gesamtstrategischen Kriegsmanagement, in dem Propaganda und ideologische Vorbereitung auf den Krieg in den Mittelpunkt rückten.

Was so bei der Transformation der Kriegstechniken im Zweiten Weltkrieg endgültig auf der Strecke bleibt, ist der Raum: Im Zuge kommunikationstechnischer Beschleunigung dominieren Zeitfaktoren über Raumverhältnisse, geographische Räume lösen sich in Zeiträume auf, zeitliche Vorsprünge werden wichtiger als Raumgewinne. Das zweite Opfer kommunikationstechnischer Rüstung und rapider Beschleunigung sind die menschlichen Sinne: allein mit einem durch Photo, Kamera und Radar technisch gerüsteten Rezeptionsapparat lassen sich der beschleunigte Körper und Nachrichten noch wahrnehmen. Das dritte, was mit der Beschleunigung der Transportvektoren tendenziell zerstört wird, ist die Fähigkeit zu sozialer oder politischer Steuerung: Entscheidungen können angesichts einer potenzierten Datenflut und reduzierter Reaktionszeiten nur noch durch spezielle Automaten getroffen werden.

Zeitkriege
Die sogenannten Kommunikationswaffen sind heute die Träger der neuen Logistik, deren Geschwindigkeit den militärischen Raum universell macht. Die Vorwarnzeit, also die Zeit, die menschliches Handeln noch zuläßt, beträgt für die interkontinentalen ballistischen Raketen eine Viertelstunde, für die leistungsstärksten U-Boote zwischen zwei und fünf Minuten. Nicht umsonst haben sowohl die USA als auch Rußland in den letzten Jahren den Hauptteil ihrer Militärforschung in die Entwicklung der Laserwaffe investiert. Die Laserwaffe heißt nun aber Lichtgeschwindigkeit, tausendstel Sekunden für zigtausende Kilometer, also die absolute Geschwindigkeit. Die Abschreckungstheorie beruht bis heute stets darauf, daß ein Erstschlag immer noch »beantwortet« werden kann und sich der Einsatz der Waffe deshalb verbietet. Ein irreversibler Vorsprung in der Zeit ist das neue Prinzip der Vernichtung.

Wenn Politik die Fähigkeit zu handeln meint, ist unvermeidlich eine bestimmte Zeitdauer impliziert. Insofern könnte man sagen, daß die Technologie (des Krieges) mit ihrem Primat der Geschwindigkeit das Politische zum Verschwinden bringt. Man muß den Krieg nicht gleich zum »Vater aller Dinge« machen, aber dennoch ist nicht zu bestreiten, daß »die technologische Logik dem Krieg entsprungen und zutiefst kriegerisch« ist. Clausewitz hatte noch vom Primat der Politik gesprochen, das heißt die Politik verhindert den Krieg als Äußerstes. Gerade weil der Krieg als instrumenteller begriffen wird, gibt es keine totale Entladung. Da, wo er zur existentiellen Kategorie mutiert, ist er nicht mehr länger politisch.

Der Zwang zur Geschwindigkeit, einst militärisches Projekt, überträgt sich auf die inzwischen ununterscheidbaren Bereiche des Zivilen: ob Magnetschwebebahn, Rekordzüge, Computersysteme mit 200 Millionen Rechnungseinheiten pro Sekunde, den in Sekundenschnelle über Verlust oder Gewinn entscheidenden Aktionen der Börse - überall finden wir das nämliche Prinzip: Verkürzung der Zeit, Akkumulation immer größerer Einheiten pro Zeiteinheit. Der moderne Krieg hat ein Prinzip der Raum-Zeit-Anordnung verwirklicht, das heute ununterscheidbar für die zivile Welt gilt.

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