Die etwas andere Biografie

Wolfgang Rudelius "Das Licht im Haus gegenüber" ist ein Entwickungsroman

Bosskopp ist ein Kind der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Er heißt Bosskopp, weil sein Stiefvater Boss heißt. Eigentlich heißt er Ruppert. Das ist der Geburtsname seiner Mutter. Seine Mutter ist Lehrerin und Stadträtin. Sie säuft. Von seinem richtigen Vater gibt es nur Fotos: ein dicklicher, fast glatzköpfiger Mann mit Brille und Fliege, viel älter als seine Mutter. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen. Der Stiefvater schlägt Boskopp.

Boskopp "ist ein Träumer. Dösen, Träumen und Nachdenken sind Boskopps Lieblingsbeschäftigungen." Oft steht er stundenlang am Fenster oder sieht sich alte Fotos an. Manchmal stellt er sich vor, dass er fliegt. Schule interessiert ihn nicht. Boskopp möchte staunen. Manchmal ist ihm "dieses wirre, anscheinend übervolle Innenleben" unheimlich. Er geht heimlich ins Kino. Ist passionierter Ladendieb: "Das Klauen versetzt ihn in eine Art Schwebezustand." Boskopp ist ein Fettwanst. Das wird nicht immer so sein. Irgendwann auf dem mühsamen Wege, erwachsen zu werden, wird er sich eine Hungerkur verordnen und schlank sein. Und einsneunzig groß.

Bosskopp ist Bettnässer. Das ist einer der Gründe, warum sein Stiefvater ihn schlägt. Aber wahrscheinlich braucht er gar keinen Grund. Er prügelt, weil er alles "picobello" haben will. Er prügelt und sagt dazu: "DU wirst nie ein richtiger Mann!" Bosskopp weiß nicht, was ein "richtiger" Mann ist. Und es wird dauern, bis er es weiß.

Boskopp hat Agressionen bis hin zu Mordfantasien. Einmal, er ist zehn, geht er zur Polizei und beschwert sich. Der Polizeibeamte ruft den Stiefvater an. Und der Stiefvater verprügelt Boskopp. Und die Mutter säuft. Boskopp wird depressiv und leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen. Der Versuch, sich das Leben zu nehmen, da ist er schon 17 und aus der Schule, kommt dennoch überraschend. Boskopp findet sich für zwei Tage in einer Nervenklinik wieder und wickelt den Professor um den Finger.

Boskopp ist ein guter Geschichtenerzähler. Bald darauf schlägt er seinen Stiefvater zusammen, als der seine Mutter schlägt. Danach wird er eine eigene kleine Wohnung haben, nach vergeblichen Versuchen, einen Beruf zu lernen, die Kunstakademie besuchen, sich die Haare wachsen lassen, die Stones lieben und sich ein bisschen für Politik interessieren, Ende der sechziger Jahre. Eine bescheidene Dosis Zeitgeist, über Boskopps Leben gestreut.

Das erzählerische Prinzip ist die Anekdote. Viele detailgenaue, sensibel beobachtete, witzige bis amüsante Stellen wechseln mit Längen und Wiederholungen. Es gibt schöne Highlights, wie das Internatskapitel und Boskopp als Klassenclown. Wolfgang Rudelius, selbst Jahrgang 1947, hat eine Art Entwicklungsroman geschrieben, mit einem Schuss Schelmenroman. Freilich bleibt die Entwicklung eher äußerlich, der Schelm depressiv. Zum guten, fabelhaft geschriebenen Schluss von Lisa (einer Kommilitonin) wach geküsst, wie der Frosch von der Prinzessin.

Wolfgang Rudelius: Das Licht im Haus gegenüber. Sauerländer, Düsseldorf, 2003.
294 S., 14,90 EUR


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