Er kehrt immer wieder zurück. Wenn ein Motiv konstituierend für das Werk des 1929 geborenen sudanesischen Autors Tajjib Salich ist, dann ist es die Figur des Heimkehrers. Ob in seinem legendären Roman Die Zeit der Nordwanderung der progressive Akademiker Mustafa Saîd aus London in sein Heimatdorf am Nil zurückkehrt. Oder in der Erzählung Briefe an Eileen der Sudanese aus London seine Familie in Wadd Hâmid besucht. Beide suchen ihre Wurzeln. Doch dort, wo sie sie suchen, passen sie nicht mehr hin. Hier wird der Verlust erst richtig spürbar.
Die Rolle des zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Intellektuellen übernimmt in Salichs jetzt erstmals in deutscher Übersetzung erschienenem Roman Bandarschâh der Lehrer Muhaimmîd. Wieder k
Lehrer Muhaimmîd. Wieder kehrt er nach Wadd Hâmid zurück - der zentrale Topos fast des gesamten Werks Salichs. Wieder zeichnet er ein facettenreiches Bild des keineswegs statischen Lebens von Muslimen in einem afrikanischen Dorf. Ein Leben zwischen Wandel und Beharren. Der einfache Bauernjunge Muhaimmîd hat es bis zum Regierungsbeamten in der Hauptstadt Khartum gebracht. Doch eines Tages wurde ihm von der neuen Regierung gekündigt, weil er das Morgengebet nicht in der Moschee verrichten wollte. Auch wenn der vorzeitig pensionierte Mann von fünfzig, vielleicht sechzig Jahren im Konflikt mit den Machthabern in die Heimat zurückgekehrt ist, vermisst er die Stadt nicht. Seine Kinder hat "die Welt der Autos, Kühlschränke und Titel geschluckt". Sie betrachtet er als "Tribut an die Ära der Freiheit, Zivilisation und Demokratie." Resigniert erzählt er es seinen Freunden im Dorf. "Ich mag es, mir vorzustellen, dass ich ein neuer Typ Mensch bin, ein Migrant", hat Tajjib Salich, dessen Schriften seit 1996 im Sudan verboten sind und der heute in London lebt, in einem Interview von sich selbst gesagt. Doch seine Protagonisten haben wenig von der postmodernen Lust ihres Erschaffers am Standortwechsel. "Ich will zurück in die Vergangenheit, zu den Tagen, als die Menschen noch Menschen und die Zeiten noch Zeiten waren", ruft Muhaimmîd im Kreis der Dorffreunde, als sie abends vor Saîds Laden sitzen. Die halten den von der Zeit und der Regierung Besiegten natürlich für verrückt. Für sie ist Wadd Hâmid ein gottverlassenes Nest voller Stechmücken, Schlangen und endlosen Plagen.Doch Muhaimmîds Regression in die Zeit "als das Herz noch frei war" gelingt nicht. Der Mythos der Einheit ist zerstört. Immer wieder beschreibt Salich die Erosion der traditionellen Ordnung in seiner Heimat. Muhaimmîd findet nicht nur ein verändertes Dorf vor, in dem selbst das Wasser plötzlich anders als in seiner Kindheit schmeckt. Auch der soziale Umbruch hat es verändert: "Wadd Hâmid existiert nicht mehr". Die Söhne Bakris haben eine Oppositionspartei gegründet und Machdschûb, den langjährigen Herrscher der Dorfpolitik, abgesetzt, der mit seiner Sippe, wie sie klagen, das Dorf "ratzekahl" fraß. Wie ein alter Tiger schleicht er nun durch den Ort. Zum Schatzmeister der Genossenschaft und zum Muezzin hat sich jetzt der Arbeiter Saîd emporgeschwungen. Der früher als minderbemittelt Belächelte hat gleich noch die Tochter des Schullehrers geheiratet. Aus einem anderen Freund der Jugendtage, Abdalhafîs, ist ein frömmelnder Islamist geworden. Früher konnte er "die Dinge noch von zwei Seiten betrachten". Jetzt hat er "sich für einen Standpunkt entschieden". Den Konflikt zwischen dem islamischen Norden und dem christlichen, beziehungsweise schwarzafrikanischen Süden, der den Sudan wie kaum einen zweiten afrikanischen Staat zerrüttet und gespalten hat, deutet Salich in dieser Figur nur an. Oder nimmt ihn vielleicht weitsichtig vorweg, wenn man an den Militärputsch von 1989 denkt, bei dem die militanten Islamisten, vier Jahre nach dem Sturz von Präsident Numeiri, an die Macht kamen. Charakteristischer ist das Motiv des Übergangs. Salichs Roman ist erstmals 1971 in Beirut erschienen. Also kurz vor dem Abkommen von 1972, das zwölf labile Jahre des Friedens zwischen Nord- und Südsudan einleitete, der damals eine teilweise Autonomie erhielt. "In dieser Zeit stehen alle irgendwo dazwischen", befindet der neue Imam Saîd auch schon irgendwie resigniert.Als Symbol für die aus den Fugen geratene Harmonie des Universums fungiert die Figur des legendären Herrschers Bandarschâh, der dem Roman den Titel gab. In den kunstvoll komponierten Erinnerungen, Erzählungen, plötzlichen Reflektionen und Eingebungen, die den distanziert die Veränderungen im Dorf beobachtenden Muhaimmîd immer wieder überkommen, lässt er seine Lebensgeschichte aufsteigen. Zugleich legt er das Trauma der Geschichte frei, für das die Figur steht. Mehr als einmal meint Muhaimmîd sie in der Moschee unter dem Fenster sitzen zu sehen oder folgt traumverloren dem Ruf des unheimlichen, aber magnetisch anziehenden Namens, "umhüllt von Schwermut". Keiner weiß genau, ob und wann es Bandarschâh gab. Die einen halten ihn für einen christlichen Herrscher Nubiens. Die anderen für einen heidnischen Herrscher mit einer mächtigen Armee schwarzer Sklaven, die dritten für einen abessinischen Prinzen. Er lebte in einer Zitadelle, soll dem Land Wohlstand gebracht haben. Doch weil er seine elf Söhne dort wie Gefangene hielt und sie regelmäßig von seinem, ihm wie aus dem Gesicht geschnittenen Enkel Marjûd auspeitschen ließ, den er den Söhnen vorzog, erhoben sich eines Tages seine Sklaven gegen ihn.Viele Varianten des Mythos sind im Dorf im Umlauf. Man weiß nie so recht, ob es der blutige Aufstand gegen ihn ist oder nur einfach die kollektive Erinnerung an seine Herrschaft, die sich durch die Erzählungen und Erinnerungen als "jene Katastrophe" zieht, die sich nicht beschreiben lässt. Und oft in der jüngsten Vergangenheit angesiedelt wird - in einer Version tauchen Männer mit Gewehren auf Kamelen auf. Doch bis hin zu den Details wie dem "schrecklichen Vogel" und den "barhäuptigen Frauen mit staubbedeckten Gesichtern", die sich an ihre Männer klammern, meint man plötzlich in dem afrikanischen Mythos Bilder wie die des New Yorker Terroranschlags des Jahres 2001 zu erkennen: "Das Chaos schien unter unseren Füßen zu explodieren, während die Leute kopflos hin und her rannten und etwas Unauffindbares suchten, einen Ursprung, aber es gab keinen." Doch über dem infernalischen Alptraum schwebte die Gestalt Bandarschahs. "Er schien über dem Tumult zu thronen, die Fäden des Chaos fest in beiden Händen, stand er mitten darin und gleichzeitig darüber - wie ein gleißender zerstörerischer Strahl."Immer wieder scheint der geheimnisvolle Herrscher aufzutauchen. Nicht nur Muhaimmîd will ihn gesehen haben. Salich erzählt quasi dezentral, gruppiert orale Erzählformen lose um den Ich-Erzähler, der mal als reifer Mann, mal als Kind auftaucht. Auch andere aus dem Dorf erzählen, wie ihnen Gefährten geschildert haben, dass sie Bandarschâhs Ruf zu seiner Zitadelle lockte. In seinem Roman Die Zeit der Nordwanderung hatte Salich mit dem Bild des schwarzen, postkolonialen Intellektuellen Mustafa Saîd, dessen Eroberungen weißer Frauen tödlich enden, ein atemberaubendes Bild für den Konflikt der Kulturen gefunden. Bandarschâh ist weniger stilisiert. Der wie ein Relikt aus der Urzeit immer wieder aufbrechende Mythos ist die Metapher für eine geschichtliche Urerfahrung zwischen Kolonisierung, Befreiung, Ethnozid und Bürgerkrieg. Seit der Eroberung Sudans 641 durch die Araber wurde das christliche Volk der Nubier bis auf ein paar tausend heute noch lebende Menschen ausgerottet. Mal förderten die islamischen Regime seit dem 16. Jahrhundert die Sklaverei, mal unterdrückten sie sie. Lange war das größte Land Afrikas und das zehntgrößte der Welt ein anglo-ägyptisches Kondominium. Nach der Unabhängigkeit des Sudan 1956 setzte die gewaltsame Arabisierung ein. Die Machthaber versuchten eine arabische "Herrenrasse" "genetisch" durchzusetzen - mit systematischen Vergewaltigungen und erzwungenen Mischehen.Wie ein geheimer Mechanismus beherrscht der Mythos um Bandarschâh noch immer das Leben der Menschen im Dorf, gibt ihm Gestalt. Er und sein Großvater, Saîds wiederkehrendes Motiv für Geschichte und Tradition, waren wie Bandarschâh und Marjûd: "Sie glichen Zwillingsbrüdern", erinnert sich Muhaimmîd. Und den Sohn des geheimnisvollen Fremden, den die Bewohner von Wadd Hâmid, so wird es erzählt, eines Tages aus dem Nil gefischt haben, den sie in ihre Gemeinschaft und in den islamischen Glauben aufnahmen, dem sie den Namen Dau al-Bait gaben, der eine Zitadelle wie einst der Legendäre baute und eines Tages wieder im Nil ertrinkt, geben sie den Spitznamen Bandarschâh. Wie einst der sagenumwobene Herrscher trat Îssa Wad Dau al-Bait nach seiner Geburt unter die Dorfbewohner, "einzigartig unter den Menschen, niemandem ähnlich". Marjam, Muhaimmîds Jugendliebe, nannte ihren Liebsten deshalb Marjûd. Als kleines Mädchen verkleidete sie sich als Junge, um in die Schule aufgenommen zu werden und dort den Koran lesen zu können. Warum ist er nicht bei ihr geblieben, sondern in die Stadt gegangen? In diesen Erzählungen und Überlieferungen verschlingen sich mythische und reale Genealogie, bis sie nicht mehr zu trennen sind. Elf Brüder - Sklaven der Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. Ihre Geißel ist die Gegenwart. In Bandarschâh erzählt Tajjib Salich mit dem Mythos das Drama der Geschichte. Überall wogt der "Krieg zwischen dem, was war und dem, was sein würde". Wann wird sie, kann sie Frieden zwischen Vergangenheit und Zukunft stiften? Die weltweite Phobie vor dem fundamentalistischen Islam derzeit droht, den Blick auf die Komplexität der arabischen Kultur zu verstellen. Salich ist einer ihrer beeindruckendsten Vertreter. Er öffnet ein Universum über einen winzigen Schauplatz. In ihrer Mitte steht eine Dattelpalme. Salich zeigt die Welt mit ihren Konflikten im Spiegel der nirgends exotisch verklärten Heimat, wo der Horizont nicht weiter reicht als bis zum Ufer des Nils. Meisterhaft verschränkt er Perspektiven und Zeiten, wechselt vom Traum zur Realität, vom Oralen zum Konstruierten. Zwischen dem Novitätenzwang und dem Jugendkult des Buchmarktes findet man immer noch mal ein vergessenes Juwel, das jeden Vergleich mit der avancierten, zeitgenössischen Literatur des Westens aushält.Tajjib Salich: Bandarschâh. Roman aus dem Sudan. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Mit einem Nachwort von Helmut Fähndrich. Lenos-Verlag, Basel 2001, 190 S., 36,90 DM
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