Desintegration In "Deutsche Zustände" zeigen Forscher um den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer, dass Fremdenfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft weiter verbreitet ist als angenommen
Die brutalen Übergriffe auf Inder und Senegalesen bei Festveranstaltungen im sächsischen Mügeln und im rheinhessischen Guntersblum in jüngster Zeit offenbaren einmal mehr die Virulenz und Latenz von Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Dass den sich auf diese Art und Weise Geltung verschaffenden Ressentiments und misanthropischen Einstellungen nicht allein spezifisch deutsche, sondern in vielen Ländern Europas verbreitete gesellschaftliche Strukturprobleme zugrunde liegen, lässt sich allenthalben den Medien entnehmen.
Auf diesen Problemkomplex nehmen der Soziologe Wilhelm Heitmeyer und Gunter Hofmann von der Zeit in einem Gespräch mit dem Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit in dem Sammelband Deutsche Zustände Bezug. Darin sprechen sie die gescheiter
echen sie die gescheiterte Einwanderungspolitik in Europa an, die zumeist hysterisch geführten Debatten über den Islam und den islamischen Fundamentalismus sowie die nicht selten antisemitisch durchsetzte Kritik an der Politik der israelischen Regierung und vielfältige Prozesse sozialer Desintegration. Verschärfend käme hinzu, dass Journalisten, Politiker wie auch Teile der sozialen Eliten in Europa eine Diskussion über gesellschaftliche Mindeststandards moderner Demokratien verweigerten. Stattdessen würden seit mehreren Jahren teure Leitkultur- und Identitätskampagnen à la "Du bist Deutschland" inszeniert. Die Einstellung, die in solchen Kampagnen oder in der häufig einseitigen Berichterstattung über spektakuläre Gewalttaten, Ehrenmorde und Zwangsheiraten zum Ausdruck komme, geißelt der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer mit ungewöhnlich scharfen Worten wie "selektive Unaufmerksamkeit", "organisierte Verantwortungslosigkeit" und "autistische Politik".Nicht ganz zu Unrecht, wenn man einen Blick auf die Ergebnisse eines Forschungsprojektes wirft, das von Heitmeyer selbst geleitet wird. In dem 2002 begonnenen und auf zehn Jahre angelegten Projekt mit dem schrecklichen, aber zutreffenden Titel "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" (GMF) untersuchen diese Forscher systematisch Bedingungen und Dynamik der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Die empirische Grundlage des am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld angesiedelten Projektes beruht auf einer jährlich von TNS-Infratest durchgeführten telefonischen Befragung von 2.000 Personen. Im fünften Band der jährlich veröffentlichten Reihe wird eine erste Zwischenbilanz des Projektes gezogen.Über lokale und regionale Aspekte und Themen der Praxis informieren in diesem Band mehrere Beiträge. Es berichten ein Gemeindepädagoge und ein Journalist über Rechtsextremismus in den Städten Ueckermünde und Delmenhorst (D. Borstel, R. Wiegand). Mehrere Autoren, Journalisten, Hörfunkredakteure, Berater und Projektleiter schildern rassistische Übergriffe auf Fußballplätzen und die Art und Weise der Abwertung von Obdachlosen (G. Dembowski, U. Gineiger), analysieren "bewegliche Angsträume" und so genannte "No-Go-Areas" (D. Begrich/Th. Weber), informieren über die seit 2001 bestehenden und Anfang 2007 vom Familienministerium nicht weiter finanzierten Beratungsprojekte (Freitag Nr. 9/2007) für Opfer rechter und rassistischer Gewalt in den neuen Bundesländern (H. Kleffner) und über eine Bürgerinitiative in der Sächsischen Schweiz in Anbetracht hoher Wahlerfolge der NPD (T. Staud). In diesen Zusammenhang gehört auch der Entwurf eines aktualisierten Konzeptes der Sozialarbeit, das auf soziale und kognitive Kompetenzsicherung bei sozial desintegrierten Personen zielt (K. Möller).Neben diesen vielfältigen Beispielen aus der Praxis ziviler Einhegung, Bekämpfung und Prävention von Fremdenfeindlichkeit finden sich in dem Band sechs aufschlussreiche empirische Studien der Bielefelder Forschergruppe. Diesen Studien liegen vor allem die Ergebnisse aus drei Längsschnittanalysen zugrunde, deren Datengrundlage auf den Antworten von 551 Personen beruht, die seit 2002 alljährlich befragt worden sind. Mit Hilfe dieser Längsschnittanalysen sollen "Kausalbeziehungen" zwischen den relevanten Kriterien der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" und "objektiven Kontextbedingungen" wie Arbeitslosenquote, Ausländeranteil, Abwanderungsquote, Bildungsstand ermittelt werden. Zu den Elementen gehören Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechte der Alteingesessenen, Islamophobie, Abwertung von Obdachlosen und Behinderten, Homophobie, Sexismus, Antisemitismus und Rassismus.Generell, so die Forscher, sei festzustellen, dass seit 2002 Fremdenfeindlichkeit, Etabliertenvorrechte und Islamophobie stark zunehmen, während Rassismus stagniere und Homophobie, Sexismus, Antisemitismus, Abwertung von Obdachlosen und Behinderten leicht rückläufig seien. Der zentrale Befund lautet, dass sich das, was sich hinter dem Kürzel GMF verbirgt, zu einem "Syndrom" latent feindseliger Einstellungsmuster auch in der sozialen und politischen Mitte Deutschlands verfestigt habe und "inzwischen zur Normalität" gehöre. Insbesondere sei eine wachsende Kluft zwischen Deutschen und Zuwanderern zu beobachten, denn 47 Prozent der befragten Deutschstämmigen empfänden Angst vor Überfremdung und nahezu 60 Prozent von ihnen unterstellten Muslimen pauschal "Sympathie für Terroristen". Nach Ansicht der Forschergruppe birgt das Syndrom der GMF mittlerweile ein gefährliches Potenzial, das die gesellschaftlichen Integrationsbedingungen (ökonomische Teilhabe, politische Partizipation, soziale Zugehörigkeit) der Demokratie in Deutschland immer weiter aushöhlen könnte.Die sechs empirischen Studien sind zwar solide ausgearbeitet, beschränken sich allerdings zumeist auf eine Analyse der Elemente, die durch das Konzept der GMF vorgegeben werden. Geradezu auffallend ist die Abstinenz der meisten Sozialwissenschaftler, ihre zweifellos wichtigen Befunde in den Zusammenhang gesellschaftlicher Strukturprozesse zu stellen und zu interpretieren. Mit wenigen Ausnahmen zeigen die meisten Autoren eine bemerkenswerte Unentschiedenheit in der Frage, ob den ermittelten Ressentiments vor allem "negative Wahrnehmungen und Ängste" sowie "autoritäre Law-and-order-Einstellungen" und/oder reale Desintegrationsprozesse und soziale Deprivation zugrunde liegen. Zudem erscheint manche Interpretation etwa des so genannten "Autoritarismus", der in den neuen Bundesländern besonders verbreitet zu sein scheint, historisch wenig informiert und nicht problemadäquat, sofern diese Einstellung weitgehend auf eine konformistische Sozialisation in der sozialistischen Vergangenheit zurückgeführt wird. Mit solchen hilflosen Interpretationen werden eher gängige Vorteile und Klischees über die neuen Bundesländer kolportiert, als dass sie zu einer historisch-kritischen Gesellschaftsanalyse beitragen.Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 5. Edition Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2007, 342 S., 11 EUR
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